Gedanken zum Karfreitag von Hermann Miklas

Eine der eigenartigsten Kreuzigungs-Darstellungen, die ich kenne, stammt von Oskar Kokoschka. Eigentlich ist es nur eine Feder-Zeichnung. Sie ist im Jahr 1945 entstanden – als Plakatserie interessanter Weise im Auftrag der Londoner Verkehrsbetriebe.

In ganz Europa hat nach dem Ende des 2. Weltkriegs Not und Elend geherrscht. Doch im Baskenland war es besonders schlimm. Dort ist eine regelrechte Hungerskatastrophe ausgebrochen. Betroffen waren in hohem Ausmaß auch Kinder. „Die hungernden Kinder von Viena“ sind zum Inbegriff des unfassbaren Leids von Kindern in ganz Europa geworden und waren damals medial stark präsent.

Im Vergleich zum übrigen Europa ist England wirtschaftlich noch vergleichsweise gut dagestanden. Deshalb hat sich die britische Regierung zu einer großangelegten humanitären Hilfsaktion entschlossen. 5000 Plakate mit Spendenaufrufen für die hungernden Kinder sollten entlang der Rolltreppen in den Londoner U-Bahn-Stationen affichiert werden. Der österreichische Maler Oskar Kokoschka, der wegen seiner Verbindung zum Judentum während des Krieges in Londoner im Exil leben musste, ist mit der Gestaltung der Plakate beauftragt worden.

Kokoschka zeichnet eine barock anmutende Christus-Figur am Kreuz. Die linke Hand bleibt am Querbalken des Kreuzes angenagelt, aber mit seiner rechten Hand – und seinem gesamten Oberkörper – beugt sich der Gekreuzigte hinunter. Dorthin, wo – rund ums Kreuz – viele Kinder stehen. Und Christus reicht ihnen seinen Unterarm zum Essen und Abnagen.

Hermann Miklas

Rachl

Die Karfreitagsansprache von Superintendent Hermann Miklas

Das ist auf den ersten Blick natürlich schockierend. Und diese Schockwirkung war für eine solche Plakatserie wohl durchaus beabsichtigt.

Aber Kokoschka hat damit noch etwas Anderes ausdrücken wollen. Nämlich: Die Worte „Christi Leib, für dich gegeben“ sind nicht nur symbolisch zu verstehen, sondern auch ganz real. Man kann als Christ nicht andächtig, fromm Abendmahl feiern – und dabei die Not der Welt geflissentlich ausklammern. Christus selbst hat das „für dich gestorben“ wörtlicher gemeint. Er hat den Tod am Kreuz auf sich genommen, um damit den Bann der menschlichen Un-Erlöstheit zu brechen. Er hat unser Elend auf sich genommen, ist gewissermaßen unseren Tod gestorben – und ist am dritten Tag wieder auferstanden, damit wir mit ihm ebenfalls neu zum Leben erwachen und gesunden können. Nicht nur spirituell, sondern umfassend. An Leib, Seele und Geist.

1945 waren schwere Zeiten. Auch wenn es den Engländern noch vergleichsweise gut gegangen sein mag, viel hatte die Bevölkerung von London damals auch nicht. Doch die Plakatserie von Kokoschka hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Es ist sonst übrigens nichts drauf gestanden. Nur unter der Kreuzes-Aufschrift INRI waren auf dem Querbalken des Kreuzes die Worte „für die hungernden Kinder“ eingeritzt. Die Londoner U-Bahn-Benutzer haben die Botschaft verstanden. – Die meisten von uns Heutigen haben deutlich mehr als die Menschen damals. Aber die Not der Welt ist insgesamt nicht kleiner geworden. Wem würde sich Christus heute selbst zu essen geben? Und welche Aufschrift würde Kokoschka 2018 in den Querbalken des Kreuzes ritzen? Wenn ich heute am Karfreitag Abendmahl feiere, trage ich diese Frage mit mir.

Die Karfreitagsansprache von Superintendent Hermann Miklas können Sie auch hier nachhören:

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