Migration als Thema „fundamentalen Wandels“

Kaum ein Thema beschäftigt Österreich und die Europäische Union so sehr wie Migration. Der Demographie-Experte Rainer Münz, der die EU-Kommission bei diesem Thema berät, spricht dabei von einem „fundamentalen Wandel“.

Menschen wandern aus, andere kommen nach Europa, um hier zu leben und zu arbeiten - vor allem die Flüchtlingsbewegung in den Jahren 2015 und 2016 stellte viele Staaten vor Herausforderungen, die wohl noch lange nicht gelöst sind.

Rainer Münz schildert: „Europa hat einen fundamentalen Wandel erlebt, weil es in der Vergangenheit im Wesentlichen ein Ort der Auswanderung war: Es sind an die 70 Millionen Europäer vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts nach Übersee ausgewandert. Und das finden Menschen nach wie vor gut - dass jemand aus Österreich, aus Europa kommend, woanders wohlhabend wird oder besonders großen Erfolg hat, das wird nach wie vor positiv aufgenommen.“

Ein lange nicht vollzogener Perspektivenwechsel

Allerdings habe sich laut dem Demographie-Experten seit den 80er-Jahren das Vorzeichen umgedreht: „Es kommen mehr Menschen in die Europäische Union, als von ihr auswandern, das heißt, das Thema hat sich von Emigration zur Immigration gewandelt - das ist ein Perspektivenwechsel, den die hier ansässigen Menschen lange Zeit so nicht vollzogen haben. Dann kamen zwar eine Zeitlang weniger Menschen, weil es in den 80er-Jahren wenig Zuwanderung nach Österreich gegeben hat, aber das hat das Immigrationsthema nur verdrängt, nicht gelöst.“

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, „mit dem Ende der politischen Spaltung Europas 1989/90 ist es dann zu neuen Migrations-, aber auch Flüchtlingsströmen in Europa gekommen - schon in den 90er-Jahren! Österreich hat ohne Einzelprüfung 90.000 bosnische Staatsbürger aufgenommen, von denen viele dageblieben sind. Das sind Situationen, in denen wir damals zwar humanitär reagiert haben, aber vielleicht immer noch zu wenig geschaut haben, dass auch Integrationsmaßnahmen ergriffen werden“, merkt Münz an.

Zwischen Zuwanderung und Ausdünnung

Dabei würde die Zahl der Menschen in Österreich ohne Zuwanderung früher oder später weniger werden, „zum einen, weil die Einheimischen weniger als zwei Kinder pro Familie haben, zum zweiten, weil sich das mittlere Alter, in dem Frauen Kinder zur Welt bringen, vergrößert“, schlussfolgert der Experte.

Würden Frauen Anfang 20 Kinder bekommen, hätten fünf Generationen in einem Jahrhundert Platz - bekommen sie erst als 25-Jährige Kinder, hätten vier Generationen Platz. Derzeit gehe man jedoch auf eine Situation zu, in der Kinder erst von Frauen Anfang 30 geboren werden, wodurch nur mehr drei Generationen in einem Jahrhundert Platz hätten, so Münz: „Das führt zu einer gewissen Ausdünnung der Bevölkerung bei gleichbleibender Kinderzahl pro Familie. Durch Zuwanderung werden - wenn man so will - demographische Lücken geschlossen. Es ist aber - solange es nicht vor allem eine Einwanderung in den Arbeitsmarkt ist - keine Garantie gegeben, dass jene, die zu uns kommen, auch tatsächlich Arbeit finden.“

Kinderbeihilfe: Klagen zu erwarten

Indes beschloss der österreichische Ministerrat, dass die Familienbeihilfe indexiert, also an die Höhe im Herkunftsland ausländischer Arbeitnehmer angepasst werden soll. Die EU wolle das Gesetz prüfen: „Wir warten, bis das Gesetz im Amtsblatt veröffentlich ist, und dann werden wir uns das ansehen und prüfen, ob es sich hier um eine nicht aus der Sache begründete Ungleichbehandlung von Unionsbürgern handelt“, erklärt Münz, der die EU beim Thema Migration berät; einem Ergebnis der Prüfung wolle er nicht vorgreifen.

Es sei außerdem zu erwarten, dass einzelne betroffene EU-Staatsbürger, die in Österreich erwerbstätig sind und bisher eine höhere Familienbeihilfe bekommen haben, gegen den Beschluss am Europäischen Gerichtshof klagen - auch dort käme es dann laut Münz zu einer Feststellung.

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