„Tint Journal“: Färbungen einer Sprache

Mit dem Brexit verliert die EU die „Sprachpolizei“, die stets über die Korrektheit des britischen Englisch wacht. Den Charme der Sprache abseits davon zeigt ein internationales Literaturjournal - gegründet von einer Steirerin in Los Angeles.

Vor eineinhalb Jahren ging die damals 23-jährige Lisa Schantl nach Amerika, um an der Montclair State University in der Nähe von New York Amerikanistik zu studieren. Dass sie mit einem Literaturmagazin im Gepäck wieder zurückkommen sollte, davon war damals noch lange keine Rede: „Das war das Spontanste, das ich je gemacht habe“, sagt sie jetzt - im Februar ging ihr „Tint Journal“ online. Die Gründungsgeschichte spielt an der Ost- und an der Westküste der USA.

ESL steht für „English as a second language”, also „Englisch als zweite Sprache“ und bezeichnet Menschen, die Englisch sprechen und schreiben, deren Muttersprache aber eine andere ist. Einer der berühmtesten ESL-Autoren ist der russisch-amerikanische Schriftsteller Vladimir Nabokov. Der Roman „Lolita“ ist sein wohl bekanntestes Werk.

Ein Platz für Anerkennung

„Tint Journal“ ist ein Online-Literaturmagazin für sogenannte ESL-Autoren. „Der Grundgedanke dahinter ist, dass man Menschen, die auf Englisch schreiben, eine Plattform gibt, wo ihre kreativen Texte auch vor diesem Hintergrund gesehen werden und Anerkennung finden können“, erklärt Lisa Schantl. Kurz sollten die Texte sein, damit sie sich in einem lesen lassen. Es gehe um kreatives Schreiben, um Lyrik, Kurzgeschichten, Fiktion und Non-Fiction, um autobiografische Texte. Das Journal erscheint zwei Mal im Jahr, in Zukunft soll es vierteljährlich herauskommen.

Von Österreich bis Haiti

19 Texte von 18 Autoren publizierten Lisa Schantl und ihr Team in der ersten Ausgabe. Die Schreiber kommen aus Österreich, Polen, Haiti oder den USA, sie sprechen Spanisch, Deutsch, Französisch, Japanisch oder Russisch. Das Ziel ist, von jedem Kontinent Autoren zu gewinnen, weltoffene Menschen, „mit Interesse an verschiedenen Sprachen und Kulturen“. Ihre englischen Texte einreichen zur Publikation können alle ESL-Autoren „von der renommierten Autorin bis zum Uni-Anfänger“. Oberstes Kriterium ist die literarische Qualität der Werke.

Voreingenommenheit als Hindernis

Die Frage nach der Qualität liegt auch der Idee für „Tint“ zugrunde. In einem Linguistik-Kurs an der Montclair State University mussten die Studenten eine Zusammenfassung schreiben - der Text war ausschlaggebend für die Benotung des ganzen Kurses. Schantl wurde als einzige schlechter als die anderen Studenten beurteilt. Sie fragte sonst nicht oft nach Noten, aber diesmal bat sie die Professorin um eine Erklärung. „You’re the one from Austria, right?“, antwortete diese.

„Sie denkt, Englisch ist nicht meine Muttersprache. Ich habe wahrscheinlich weiß Gott wie viele grammatikalische Fehler oder so“, dachte sich Schantl. Sie bat die Vortragende, die Zusammenfassung noch einmal durchzusehen. Die Professorin entschuldigte sich, es sei kein einziger Fehler in dem Text gewesen.

„Da habe ich gemerkt, es gibt diese Voreingenommenheit von Natives (Muttersprachlern, Anm.) - vielleicht gerade von englisch-sprachigen Leuten -, dass sie denken, du kannst eine Sprache nie auch nur ansatzweise so gut beherrschen wie sie. Und ich habe mir gedacht, dagegen möchte ich etwas machen“, sagt Schantl heute. Wie das konkret ausschauen könnte, wusste sie damals noch nicht.

Logo von "Tint Journal"

Tint Journal

Die nächste Bewerbungsphase startet Mitte April. Die genauen Vorgaben für Formate und Längenangaben sind auf der Website ersichtlich. Maximal 24 Texte werden in der nächsten Ausgabe im September publiziert.

Der Brexit und die Sprache

Auf die Korrektheit der Sprache achtet man besonders im britischen Englisch. Der letzten Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2012 zufolge haben 13 Prozent der EU-Bürger Englisch als Muttersprache. Englisch ist auch die am häufigsten verwendete Fremdsprache in der Europäischen Union. Mit dem Brexit verliert die EU die Nation mit den meisten englischen Muttersprachlern - das Englische bleibt der EU allerdings auch nach dem Brexit erhalten: Es ist die Amtssprache von Irland und Malta.

Gründungsteam aus aller Welt

Über den Sommer 2018 wechselte Schantl die Küste, ging nach Los Angeles und nahm an einem Workshop über Verlagswesen an der University of Southern California teil. Dort wurde gefragt, wer seine Idee für die nächsten Wochen vorstellen wolle. Eigentlich hatte die Steirerin gehofft, bei einem der Projekte mitarbeiten zu können, doch in diesem Moment dachte sie: „Wenn ich das jetzt nicht mache, wann dann?“

Das "Tint Journal"-Team mit Valeria García Origel, Rongqian Ma, Lisa Schantl und Kenneth Guay

Tint Journal

Das „Tint Journal“-Team: Valeria García Origel, Rongqian Ma, Lisa Schantl und Kenneth Guay

In fünf Minuten schrieb sie ein grobes Konzept. Mit drei weiteren Workshopteilnehmern arbeitete sie an der Idee des ESL-Literaturmagazins: Kenneth Guay aus New York, die Mexikanerin Valeria Gracía Origel und Rongqian Ma aus China sind die Gründungsmitglieder - sie alle verbindet ein Studium oder ihre Arbeit im Literatur- und Verlagswesen und die Liebe zur Sprache.

Bücher nicht gelesen, sondern analysiert

Die Liebe zu den Besonderheiten der Sprache begleitet Lisa Schantl schon seit ihrer Kindheit im oststeirischen Neudau – lange bevor sie begann, in Graz Philosophie und Anglistik/Amerikanistik mit dem Fokus auf nordamerikanische Literaturwissenschaften zu studieren. Sie hat gerne gelesen, aber nicht viel – weil sie die Werke sprachlich „zerlegte“.

„Ich habe von vornherein immer jeden Satz wirklich aufs kleinste Detail untersucht. Wie ist das aufgebaut, wie entsteht der rote Faden in den Büchern, welche Wörter verwenden die Autoren. Mir ist es immer um den kleinsten Baustein im Buch gegangen“, erzählt die 24-Jährige. Heute arbeitet sie beim Buchverlag Leykam, lektoriert, begutachtet Manuskripte oder organisiert Events. Im Verlagswesen will sie auch weiterhin arbeiten.

Sendungshinweis:

„Guten Morgen Steiermark“, 29.3.2019

Die Zwischentöne in der Sprache

Den ersten Schritt hat sie nun mit ihrem eigenen Journal gesetzt. Bereits in Los Angeles entstand auch der Name „Tint Journal“: „Tinted“ bedeutet „getönt“ oder „gefärbt“, etwas mit einer Färbung. „Wir haben das auf die Sprache von unseren Schreibern bezogen, denn wenn du von einer anderen Kultur oder Sprache kommst, ist das, was du auf Englisch schreibst, automatisch ein bisschen anders und das ist eben dieser ‚tint‘ in dieser Sprache“, erklärt die Gründerin.

Lesezeichen mit der Aufschrift "Tint Journal" zwischen Büchern

ORF/Alina Neumann

Gemeinsame Sprache und eigene Kultur

Diese „Tönung“ stellt das Team vor eine besondere Herausforderung, wenn es die ausgewählten Texte editiert. Dann müssen Fehler und absichtliche Abwandlungen der Autoren unterschieden werden. Das mache die Arbeit mit diesen Texten so spannend, sagt Schantl. „Das zeigt auch, finde ich, so viel von der eigenen Kultur, die die Leute da mitreinbringen und da entwickelt man ein ganz eigenes Gespür für die einzelnen ersten Sprachen, die da mitschwingen“, sagt sie.

Texte zum Anhören

Wer das Journal über die Crowdfounding-Plattform Patreon abonniert, kann den Autoren beim Lesen ihrer Geschichten zuhören - das bringt eine weitere Dimension dieser Einfärbungen in das Magazin. Man hört verschiedene Akzente, man hört, „wie ein Autor das betont, vielleicht an anderen Stelle eine Pause macht, wo du jetzt einfach weitergelesen hättest, und das hat noch so einen zusätzlichen Flair“, sagt Lisa Schantl.

Auch Muttersprachler können Texte für „Tint Journal“ verfassen. Sie schreiben Porträts, Rezensionen oder Interviews über oder mit ESL-Autoren und ihre Werke.

Das hat mitunter auch finanzielle Gründe: Das „Tint“-Team arbeitet auf freiwilliger Basis. Ums Geld gehe es nicht, aber Dinge wie Website und Server müssten bezahlt werden - deshalb sei man auf Abonnements oder Spenden über die Plattformen Patreon und Ko-Fi angewiesen.

Schreiben in der Küche

Schantl selbst schreibt in ihrer Freizeit, eine Routine hat sie dabei absichtlich nicht. „Ich schreibe Geschichten am besten, wenn ich Menschen um mich habe“, sagt sie. So hat sie in ihrer WG oft in der Küche geschrieben: „Da ist immer viel passiert, da habe ich diese reale Welt in die fiktionale Welt packen können.“

Lisa Schantl, die Gründerin von "Tint Journal"

Uni Graz/Kanizaj

Lyrik schreibt sie gerne in der Natur – ganz im Gegenteil zu ihrer Lieblingslyrikerin Emily Dickinson: Die lebte im 19. Jahrhundert und gilt als bedeutende amerikanische Dichterin. Sie sei eine interessante Persönlichkeit, „weil sie so gut wie nie das Haus verlassen hat, aber fast jeden Tag ein Gedicht geschrieben hat, das alles umfasst“, so Schantl.

Von der Musik zur Literatur

Eigentlich kommt Lisa Schantl von der Musik, besuchte das Musikgymnasium in Oberschützen. Sie spielt Klarinette und Klavier und begann mit neun Jahren mit dem Gesangsunterricht. Sie ist mit Musik und Literatur aufgewachsen, auch wenn in ihrer Familie sonst niemand damit zu tun hatte. „Das waren anscheinend so meine kleinen Eigenheiten, die ich von vornherein mitgebracht habe“, erzählt die 24-jährige. Eigentlich wollte sie zum musikalischen Theater, mittlerweile „ist die Literatur zum Beruf geworden.“

Musik und Literatur als Spiegel der Gesellschaft

Schantl sieht eine starke Verbindung zwischen beiden Kunstformen: „Ich glaub, es ist beides ein Spiegel unserer Gesellschaft.“ Man könne soziale und politische Strukturen wiedererkennen – mit einem kreativen Zugang. In der Literatur sei das einfachste Beispiel das Fantasy-Genre.

„Wenn ich, so wie Tolkien (Autor von „Herr der Ringe“, Anm.) ein eigenes Universum erschaffe, dann fließen dort natürlich die ganzen realen Umstände in dieses Universum hinein.“ Das sehe man an den unterschiedlichen Völkern, daran, wie sie miteinander interagieren, wie Konsens und wie Konflikt entstehen. „Es ist ein kleines Abbild, eine Parallelwelt, durch die es vielleicht ab und zu einfacher fällt, die eigene Welt besser zu verstehen und die reale Welt zu analysieren und anzuschauen“, sagt die Steirerin.

Dialog über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg

In der Musik sei es ähnlich: „Ein Musikstück drückt in jedem Akkord, der verwendet wird, in jeder Variation einen Gemütszustand aus oder es kann auch ein Dialog geschaffen werden.“ Das höre man an den großen Symphonien. Wenn beispielsweise „die kleinen Querflöten mit den großen Tuben kommunizieren“, so Schantl.

Auch das „Tint Journal“ schafft einen Dialog - zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. In diesem Fall wäre es vielleicht sogar wünschenswert, wenn sich die kleine literarische Welt des Magazins auf die große, reale Welt übertragen würde.

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