„Die Wikipedia-Story“ – Cover
Campus
Campus
Lesezeichen

Biographie eines Weltwunders

„Hello World!“: So lautete der erste Eintrag in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia. In den letzten 20 Jahren kamen über 2,5 Mio. Artikel dazu. „Die Wikipedia-Story“ von Pavel Richter widmet sich der Entstehung und Entwicklung von Wikipedia.

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales wird heuer 65 Jahre alt, stammt aus dem Süden der USA und hat als Kind eine Privatschule besucht, die von seiner Mutter geleitet wurde und die sich an den Prinzipien der Montessori-Pädagogik orientierte: Für die wenigen Kinder gab es keinen festen Lehrplan, sondern alle durften sich mit den Themen beschäftigen, die sie gerade interessierten. Das kam dem lesebegeisterten Jimmy gerade recht, und so vertiefte er sich in die gedruckten Lexika seines Elternhauses.

Sendungshinweis:

„Guten Morgen, Steiermark“, 28.2.2021

Dezentrales Wissen

Später absolvierte Jimmy Wales ein Wirtschaftsstudium und las dabei auch einen Artikel des österreichischen Ökonomen Friedrich von Hayek mit dem Titel „Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft“.

„Hayeks Ansatz der freien Marktwirtschaft geht davon aus, dass Wissen dezentralisiert ist und dass Menschen zusammenkommen müssen, um ihr jeweils unvollständiges Wissen zusammenzusetzen und dies nicht zentral gelenkt sondern jeweils für jede Entscheidung aufs Neue und auf lokaler, nicht zentraler Ebene.“

Den Prozess der Entstehung revolutioniert

Auch wenn hier schon die Grundzüge von Wikipedia ersichtlich sind, die bedeutende Leistung von Jimmy Wales war aber ein weiterer, sehr wesentlicher Schritt.

„Wales revolutioniert nicht das Konzept der Enzyklopädie als zentralem Ort des Wissens, er revolutioniert den Prozess dessen Entstehung, indem er den Experten die Entscheidungsmacht nimmt und sie in die Hände der Crowd, der Masse gibt. Wales hat nicht die Enzyklopädie verändert, er hat ihren Entstehungsprozess vom Kopf auf die Füße verlagert.“

„Die Wikipedia-Story“ – Cover
Campus

Seither schreiben nicht nur UniversitätsprofessorInnen und Diplomingenieure Wikipedia-Artikel, sondern buchstäblich alle, die sich in einem Thema besonders gut auskennen, und sie werden von jenen verbessert, die sich noch besser auskennen – mit allen Vor- und Nachteilen.

„Eigentlich kann jeder alles in Wikipedia machen, das ist eines der Grundprinzipien einer offenen Enzyklopädie. Darum kann auch jeder Mensch ohne Anmeldung, ohne jemals einen Artikel geschrieben zu haben oder ohne jemand um Erlaubnis zu bitten, einen Artikel zur Löschung vorschlagen. Alles, was es dazu braucht, ist ein Hinweis, den man am Kopf des Artikels einfügt. In einem roten Kasten verkündet dieser dann: ‚Dieser Artikel wurde zur Löschung vorgeschlagen.‘“

Von „Editier-Kriegen“ und flachen Hierarchien

Die daraus entstehenden „Editier-Kriege“, also das manchmal wochenlange Überschreiben, Löschen und Wiedereinfügen von Textteilen oder ganzen Artikeln in oftmals sehr feindseliger Manier und mit der dementsprechenden Sprache, zählen zweifelsohne zu den unangenehmen Seiten der Wikipedia, wird aber in „Die Wikipedia-Story“ nicht verschwiegen, sondern – im Gegenteil – recht detailliert geschildert. Eines der prominentesten Beispiele hat übrigens wieder Österreich-Bezug, nämlich der Artikel über den Wiener Donauturm.

Pavel Richter weiß nur zu gut, wovon er schreibt: Er war fünf Jahre lang in führender Position bei Wikipedia Deutschland tätig. Deswegen kennt er auch die sehr flachen Hierarchien, die immer wieder Anlass zu Spekulationen über Zensur bei Wikipedia geben.

Nicht vor Falschmeldungen gefeit

Richter hält nicht mit der Tatsache hinter dem Berg, dass die überwiegende Zahl der Autoren Männer sind, und er verheimlicht ebenso wenig, dass auch ein für alle einsichtiges Internet-Lexikon nicht vor Falschmeldungen und gezielten Manipulationen gefeit ist: So hat zum Beispiel im Jahr 2009 ein deutscher Journalist aus Jux und Tollerei den Artikel über die Besonderheiten des Berliner Dialekts um Einträge ergänzt, die zwar frei erfunden waren, die es aber in viele deutsche Tageszeitungen, in ein amerikanisches Kulturmagazin und sogar in etliche Reiseführer über Berlin geschafft haben. Erst als den Mann ob der Popularität seines Fakes das schlechte Gewissen plagte, hat er die Einträge wieder gelöscht und sich öffentlich bei der Wikipedia Gemeinschaft entschuldigt.