„Wir waren glücklich hier“ – Cover
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Eine Reise quer durch ein gequältes Land

Mit Afghanistan assoziiert man oft den Begriff „Krieg“, aber hinter diesem Wort stecken viele persönliche Geschichten. Im Buch „Wir waren glücklich hier“ beschreibt der Journalist Christoph Reuter Erlebnisse auf seiner Reise durch dieses Land.

„In vielen Außenbezirken kamen Männer aus den Häusern, teils bewaffnet, sie gaben sich als Taliban zu erkennen und machten sich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum der Stadt. Der Sturm auf Kabul hatte begonnen, wie ihn keiner erwartet hatte. Kabul kapitulierte vor einer Armee von Fußgängern. Einen militärischen Angriff hätten die US-Truppen mühelos aus der Luft aufhalten können, doch die amerikanischen Jets waren wirkungslos gegen dieses Ameisenheer.“ So beschreibt der Deutsche Christoph Reuter die jüngste, aber nicht minder dramatische Zeitenwende in Afghanistan.

Sendungshinweis

„Guten Morgen, Steiermark“, 30.4.2023

Nachdem die USA und ihre Verbündeten im Mai 2021 beschlossen hatten, ihre Truppen aus dem Konfliktland am Hindukusch wieder abzuziehen, übernahmen – für alle überraschend – sehr schnell wieder die Taliban die Macht im Land. Das Chaos am Flughafen von Kabul, die vielen Menschen, die zu fliehen versuchten – dabei entstanden Bilder, die um die Welt gingen. Genau dorthin, von wo so viele weg wollten, ist Christoph Reuter hineingegangen. Der aus Norddeutschland stammende, mehrfach preisgekrönte Journalist hat Islamwissenschaften studiert, spricht fließend Arabisch und kennt Afghanistan seit 20 Jahren – er hat sogar drei Jahre in Kabul gelebt.

Interviews mit Taliban-Führern

Reuter gelang es, Interviews mit durchaus hochrangigen Taliban-Führern zu machen, die immer wieder betonten, wie wichtig ihnen die Menschenrechte und das gedeihliche Zusammenleben aller Volksgruppen im Land wären – die Realität sprach rasch eine andere Sprache, wie der Journalist am Beispiel einer jungen Schachmeisterin in seinem Werk beschreibt.

„Der Taliban-Führer hatte ihr Bild und ihren Namen auf Facebook gesehen, als sie wieder einmal ein Turnier gewonnen hatte. Seither wollte er sie haben, heiraten, aber letztlich beherrschen. Die meisten Taliban wollten eine Frau, die sich von vornherein fügte, eine Analphabetin vom Dorf, die kurz vorm Vieh rangierte und in rascher Folge ein halbes Dutzend Kinder gebar. Er nicht. Er wollte sie. Eine gebildete Sklavin, die praktischerweise auch noch Krankenschwester war. Das wäre gut, hatte er ihr geschrieben, sie hätten ja viele Verwundete.“

Von einem auf den anderen Tag war alles anders

Bei seinen Fahrten durch Regionen, in die Landesfremde ewig keinen Fuß mehr gesetzt haben, hat Reuter von Bauern erfahren, die von einem Tag auf den anderen ihr jahrzehntelang bestelltes Land verlassen mussten – der Grund dafür war aus Sicht der Taliban, dass sie der falschen Volksgruppe angehören.

Der Autor hat aber auch mutige Afghanen kennengelernt, die mithilfe Sozialer Medien lokalen Widerstand organisieren. Er ließ sich von Großgrundbesitzern erklären, warum sie und viele andere doch für die Taliban sind, und er interviewte einen Chirurgen aus Tadschikistan, der mit unglaublich viel persönlichem Einsatz – dafür umso weniger Mitteln – die medizinische Versorgung in einer Stadt mit 50.000 Einwohnern im Nordwesten des Landes zu organisieren versucht.

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Reuter hat aber auch völlig überforderte Taliban getroffen, die glauben, dass die internationale Gemeinschaft weiterhin ihr fragiles Staatsgebilde finanziert. Der Autor hat auch Mohnpflanzer besucht, die mit Opium zehn- bis 20-mal mehr verdienen als mit dem Anbau von Weizen. Daher liefern sie nach einem kurzen Rückgang mittlerweile wieder den Rohstoff für 90 Prozent des weltweit konsumierten Heroins.

Ein gespaltenes Land

Reuters Conclusio über das Land stimmt wenig optimistisch: „Afghanistan war seit seiner gewaltsamen Einigung vor 130 Jahren wegen konfessioneller und ethnischer Unterschiede stets ein zerrissenes Land gewesen. Aber auch, weil die verfeindeten Volksgruppen von einem Krieg in den nächsten zogen. Stets in der ehernen Überzeugung, erlittenes Unrecht vergelten zu müssen – damit aber immer wieder neues Unrecht schufen.“