Gesetzesbücher im Büro von Staatsanwalt Hansjörg Mayr
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Gericht

Gericht zu langsam: Terror-Verdächtiger frei

Ein mutmaßliches Mitglied der radikalislamistischen Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) befindet sich trotz Mordanklage auf freiem Fuß. Der 32-Jährige wurde enthaftet, weil die zulässige Maximaldauer der U-Haft überschritten war.

Gegen den Tschetschenen liegt eine Anklage der Staatsanwaltschaft Graz wegen terroristischer Straftaten – darunter Mord – vor – dennoch wurde er aus der U-Haft entlassen. Diese darf laut Strafprozessordnung (StPO) bis zum Beginn der Hauptverhandlung zwei Jahre nicht übersteigen, selbst wenn der Betroffene eines Kapitalverbrechens verdächtigt wird, das mit einer mehr als fünfjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist (§178 Abs 1 2. Fall StPO). Nachdem diese Grenze deutlich überschritten war, war der Mann aus formalen Gründen zwingend zu enthaften, um dem Gesetz genüge zu tun – daher befindet sich der 32-Jährige seit dem 5. Mai auf freiem Fuß, wie die „Kronen Zeitung“ aufgedeckt hat.

Von „Hassprediger“ Mirsad O. rekrutiert

Der Tschetschene, der 2004 als Flüchtling nach Österreich gekommen war, soll vom radikalislamistischen „Hassprediger“ Mirsad O. für den IS rekrutiert worden sein. Der Kampfsportler ging schließlich nach Syrien, wo er sich laut Staatsanwaltschaft Graz einer Kampftruppe der Terror-Miliz angeschlossen haben soll.

Jahre später wurde über einen Zeugen, der auch Mirsad O. belastet hatte – was mit dazu führte, dass der Prediger in Graz rechtskräftig zu 20 Jahren Haft verurteilt werden konnte – bekannt, dass der heute 32-Jährige in Syrien Morde begangen haben soll. Der Belastungszeuge wurde in ein spezielles Zeugenschutzprogramm aufgenommen, der Tschetschene, der zu diesem Zeitpunkt in Österreich nicht mehr greifbar war, per internationalem Haftbefehl gesucht.

U-Haft im April 2019 verhängt

Im November 2018 klickten für den Tschetschenen in Weißrussland die Handschellen. Er kam in Auslieferungshaft, im darauf folgenden Frühjahr übergaben ihn die Behörden in Belarus der österreichischen Justiz. Am 26. April 2019 wurde über den Terror-Verdächtigen vom Landesgericht Graz die U-Haft verhängt.

Ein von der Staatsanwaltschaft Graz geführtes, umfangreiches Ermittlungsverfahren, das sich nicht nur gegen den 32-Jährigen, sondern auch gegen dessen Eltern – ihnen wird Terrorismus-Finanzierung angelastet –, Mirsad O. und weitere Verdächtige richtete, zog sich allerdings in die Länge. Die Anklage wurde schließlich am 11. November 2020 eingebracht. Wie Florian Kreiner, der Verteidiger des Tschetschenen, im Gespräch mit der APA darlegte, habe er bei der Grazer Anklagebehörde mittels „mehrfacher Urgenz“ auf die zeitliche Begrenzung der U-Haft aufmerksam gemacht – darauf habe es geheißen, es sei „noch nicht klar, ob angeklagt wird“, so Kreiner Mittwochmittag.

Konkret auf den Inhalt der Anklage – inkriminiert sind unter anderem terroristische und kriminelle Vereinigung, Mord in Form einer terroristischen Straftat und Ausbildung für terroristische Zwecke – gegen den 32-Jährigen bezogen, hielt Kreiner fest: „Er hat sich kurzfristig in Syrien aufgehalten, war aber an terroristischen Straftaten nicht beteiligt.“ Der Tschetschene habe die Grabstelle seines in Syrien gefallenen Schwagers besuchen wollen.

OGH: „Es hat keine Verzögerung gegeben“

Nach dem Vorliegen der 200 Seiten starken Anklageschrift war ein Konflikt über das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht ausgebrochen, mit dem das Oberlandesgericht (OLG) Graz und in weiterer Folge der Oberste Gerichtshof (OGH) befasst wurden. OGH-Sprecherin Alexandra Michel-Kwapinski wies am Mittwoch im Gespräch mit der APA Unterstellungen zurück, man habe sich für die zu treffende Entscheidung zu lange Zeit gelassen: Der OGH habe den Akt am 15. Februar erhalten, zwei Tage später zur Stellungnahme der Generalprokuratur übermittelt, diese samt dem Akt am 2. März retour bekommen und am 25. März die Zuständigkeit geklärt. „Es hat keine Verzögerung gegeben“, betonte Michel-Kwapinski.

Verhandlung in Wien geplant

Das Wiener Landesgericht für Strafsachen sei deshalb für die Hauptverhandlung zuständig, „weil einige von der Anklage umfasste Ausführungshandlungen im Sprengel des OLG Wien stattgefunden haben sollen“. Termin für eine Hauptverhandlung gibt es noch keinen – dem Vernehmen nach sollen noch einige Einsprüche gegen die Anklage offen sein.

Zadic: „Prozedere wird intern geprüft“

Justizministerin Alma Zadic (Grüne) gab sich in der Sache im Pressefoyer nach dem Ministerrat äußerst zurückhaltend: Das Prozedere innerhalb der Gerichtsbarkeit werde intern geprüft, dem wolle sie nicht vorgreifen. Wiederholt betonte die Ressortchefin lieber, was für großartige Arbeit Staatsanwaltschaft und Polizei geleistet hätten, des Täters überhaupt habhaft zu werden. Dass es in komplexen Angelegenheiten länger dauern könne, da Fakten zusammengetragen werden müssten, ist für Zadic normal.

FPÖ: „Unfassbarer Justizskandal“

FPÖ-Obmann Norbert Hofer und der blaue Justizsprecher Harald Stefan orteten in einer Aussendung demgegenüber einen „unfassbaren Justizskandal“. Die Bundesregierung habe aus dem islamistischen Anschlag von Wien im November 2020 offenbar nichts gelernt: „Es darf nicht passieren, dass ein mutmaßlicher Terrorist und grausamer Enthaupter entlassen wird, nur weil die Justiz offenbar zu wenig Personal und Geld hat, um Fristen einzuhalten. Das ist nicht nur ein Versäumnis der Justizministerin, die nun handeln muss – das ist auch ein Versäumnis des Koalitionspartners ÖVP, der die Justiz finanziell und politisch an die kurze Leine nehmen will.“

„Dass sich ein Terror- und Mordverdächtiger, der vom Verfassungsschutz als hochgefährlich eingestuft wird, nun wieder völlig frei in unserem Land bewegen darf, nur, weil eine Frist verabsäumt wurde, ist ein Wahnsinn“, gab der steirische FPÖ-Obmann Mario Kunasek zu bedenken. Angesichts „der folgenschweren Versäumnisse der Justiz“ könne nicht zur Tagesordnung übergegangen werden.

SPÖ: „Ergebnis von ÖVP-Sparpolitik“

„Wenn es in einem Terroristenprozess über zwei Jahre dauert, bis es zur Hauptverhandlung kommt, ist das das Ergebnis einer jahrelangen ÖVP-Politik des Kürzens und Einsparens im Justizbereich“, hielt wiederum SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim in einer Presseaussendung fest. Die Justizministerin müsse sich für mehr Ressourcen einsetzen, um schnellere Verfahren zu gewährleisten.

„Die Maximaldauer der U-Haft ist rechtsstaatlich festgelegt, sie dient dem Schutz der Bevölkerung vor Willkür und ist damit richtig und kann nicht aufgeweicht werden“, betonte die SPÖ-Politikerin. Dessen ungeachtet dürfe eine Enthaftung wie die vorliegende in einem funktionierenden Rechtssystem nicht vorkommen: „Schon beim Terroranschlag im November waren Personal- und Ressourcenmangel mitentscheidend dafür, dass der Terrorist seinen Angriff verüben konnte. Die Sicherheit unserer Bevölkerung muss uns einfach mehr wert sein.“

Verfassungsschutz war vor Enthaftung informiert

Das Justizministerium betonte auf APA-Anfrage, das Wiener Landesamt für Verfassungssschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) sei vor der Enthaftung informiert worden, „um alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen“. Mirsad O. befinde sich selbstverständlich weiter im Gefängnis.