Ukrainischer Soldat
APA/AFP/DANIEL LEAL
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Ukraine-Krieg

Diskussion: Kein Konzept für neue Friedensordnung

Bei einer Diskussion in Graz ist Montagabend über die politischen Folgen des Ukraine-Kriegs diskutiert worden. Politikexperten zufolge herrschen in Russland demnach andere Denkkategorien – ein Konzept für eine neue Friedensordnung gebe es nicht.

„Bedrückend“: So fasste Club-Alpbach-Steiermark-Vorsitzender Herwig Hösele als Veranstalter der Diskussion im Rahmen von „Geist und Gegenwart“ das Ukraine-Thema Montagabend in einem Wort zusammen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine habe neben verheerenden Folgen auch ein Ende jahrzehntelang gewisser politischer Konzepte gezeigt, so der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler bei der Diskussion.

„Europäischer Traum zerschlagen“

Münkler führte das „Scheitern und Schwinden von Sätzen wie ‚Wir haben aus der Geschichte gelernt‘ oder ‚Nie wieder‘“ an, die „fast ein politisches Glaubensbekenntnis darstellten und nun wie zerschlagenes Geschirr um uns liegen“. Nach dem 24. Februar habe allerdings ein erst holpriges, aber dann von großer Beschleunigung getriebenes „Entlernen“ stattgefunden.

„Ein europäischer Traum wurde zerschlagen, aber es war nicht nur naiv, ein Konzept von Friede und Ordnung und Wohlstand zu haben. Doch: Wir haben als Europäer den Höhepunkt der Wohlstandskurve überschritten“, sagte Münkler, und es werde Jahre und Jahrzehnte dauern, bis man wieder dort sei. Es sei aber keine Zeitenwende, eher eine Zäsur, also ein Brechen, bei dem man nun etwas verständnislos dastehe.

Kein neues Friedens- und Sicherheitskonzept

Ein neues Sicherheitskonzept habe der Westen noch nicht. Der Grundsatz der Europäischen Friedensordnung nach 1989/90 sei vernünftig gewesen, nämlich Konflikte in Kooperation zu verwandeln und Wirtschaft als Transformationsvehikel zu nutzen. Spätestens mit dem Zerfall Jugoslawiens stand aber im Raum, es könnte sich etwas in der Geschichte wiederholen: Man setzte auf Ökonomie statt Nationalität als Identifikationsfaktor. „Das hat ganz gut geklappt, aber Russland ist zu groß gewesen, um in ein Konzept eingebunden zu werden“, sagte Münkler.

Es sei aber eine zentrale Sache gelungener Friedensordnungen, alle Mächte daran zu interessieren: „Beim Westfälischem Frieden oder dem Wiener Kongress ist das gelungen“, so Münkler. Ein solches, für beide Seiten vorteilhaftes, ökonomisches Geflecht existiere nun nicht mehr, wie bisher etwa bei Rohstoffe gegen Veredelung. Deutschland und Österreich hätten zuletzt tendenziell in wirtschaftliche Macht investiert.

Krim, Donbass, Mali, Syrien, Libyen – das habe man in Europa als Ausnahmen bei einem „notorischen Störenfried“ Putin akzeptiert, um am Grundparadigma der Friedensordnung festzuhalten. „Der Putin ist ein unangenehmer Kerl, aber von dem werden wir uns das hemmungslose Konsumieren der Friedensdividende nicht verderben lassen“, fasste Münkler zusammen. Er sehe zwei Gefahren: Russland bleibt revisionistisch, weil es seine Kriegsziele nicht erreicht, und die Ukraine wird revisionistisch, weil sie ihre Gebiete zurückhaben will.

Diplomat ortet „imperialen Gedanken“

Martin Sajdik, langjähriger Spitzendiplomat mit Stationierung u.a. in Moskau bzw. Sondergesandter der Ukraine-Mission der OSZE von 2015 bis Anfang 2020, konstatierte neben einer „Obsession Putins“ in der Ukraine-Frage völlig andere Denkkategorien in Russland als in der EU und den USA: Der imperiale Gedanke sei sehr präsent.

Ukraine-Krieg
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Sajdik beschrieb etwa die Lage in Kramatorsk im westlichen Donbass am 8. April Ziel eines russischen Raketenangriff auf den Bahnhof voller Zivilisten: „2015 war die Stadt unglaubliche postsowjetische Tristesse gewesen, die Kontaktlinie, eine komplett künstliche Linie übrigens, ganz nahe“, so Sajdik. 2019 habe die Stadt schon ganz anders gewirkt, sei aufgeblüht, die Bevölkerung glaubte an die Zukunft.

Doch gab es immer Gefechte, viel zu selten Waffenstillstände. Das bringe ihn zum Vertrag von Minsk, der schon am dritten Tag nicht mehr eingehalten wurde. Der Donbass hätte einen Sonderstatus haben sollen, nach Kommunalwahlen unter OSZE-Schirm und Dezentralisierung, sprachlicher Selbstbestimmung, eigene Staatsanwaltschaft und Volksmiliz, aber nach der Wahl wieder unter Souveränität der Ukraine. „Die Russen hatten aber andere Ziele, es ging nicht um den Sonderstatus, sondern Autonomie“. Letzteres stand nicht im Minsker Abkommen.

„Obsession“ in Ukraine-Frage

Sajdik meinte, es gebe eine Obsession Putins mit der Ukraine-Frage: Die Proteste in der Ukraine zwischen November 2013 und Februar 2014 seien seine größte politische Niederlage gewesen, weil die Bevölkerung nicht den russischen Weg einer euro-asiatischen Union, sondern einen europäischen Weg wählte. „Putin wollte das ständig auswetzen, er fürchtete, man sehe ihn als schwachen Staatsmann an, gegen den ‚Polit-Clown‘ Wolodymyr Selenskyj, den er nicht ernst nahm. In Minsk hörte ich vorige Woche eine recht interessante Erklärung, allerdings aus dortiger Mentalitätssicht zu werten: Putin sieht sich als große historische Persönlichkeit wie Peter der Große und Stalin“.

Wladimir Putin
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Beim Einreisen nach Donezk sehe man als erstes ein großes Stalin-Porträt: Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass in Russland andere Denkkategorien vorherrschen – in seinem Selbstverständnis sei Russland noch immer ein Imperium und denke auch so, und das münde in imperiale Reflexe und in imperiales Handeln.

EU-Mitgliedschaft der Ukraine als „mühsamer Prozess“

Sajdik sagte zu der Frage, ob Putin gescheitert sei, wenn es diesem darum gehe, die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass zu verteidigen, dann habe er die Latte niedrig gelegt. „Einige territoriale Gewinne hat er ja, offensichtlich ist ja, er will die ganze Schwarzmeerküste haben und Novo Rossija wieder erstehen lassen. Aber sollen Eroberungen im 18. Jahrhundert nun Eroberungen im 21. begründen?“

Zur angestrebten EU-Mitgliedschaft der Ukraine meinte Münkler, es werde wohl darum gehen, die Ukraine unterhalb der Vollmitgliedschaft in die Nähe zur EU bringen. Sajdik sagte, ein EU-Beitritt sei keine emotionale Sache, sondern ein mühsamer Heranführungsprozess. Die Türkei etwa sei bereits im 59. Jahr ihrer Beitrittsperspektive.