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ORF/Johannes Puch
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Bildung

Rund 100.000 Steirer sind Analphabeten

Allein in der Steiermark können auch nach neun Jahren Pflichtschulbesuch rund 100.000 Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben. Der ORF Steiermark traf einen Mann, der bis zum Alter von 47 Jahren Analphabet gewesen war und heuer lesen und schreiben gelernt hatte.

„Mein erstes Buch habe ich im März gelesen. Da war ich 47 Jahre alt. Das Anne-Frank-Buch ist eine Kurzversion und hat 103 Seiten. Das habe ich in einem Tag geschafft. Da habe ich schon ein bisschen besser lesen können. Ein paar Sachen habe ich nicht verstanden, die musste ich nachlesen. Aber es waren solche Glücksgefühle, als ich fertig war“, erzählt Gerhard. Der Oststeirer war sein Leben lang Analphabet gewesen, bis er im Frühjahr an einem Kurs des Alea Lernforum teilnahm.

Formulare, Fahrpläne und Speisekarten verstehen

Beim Alphabetisierungskurs habe er ganz klein angefangen, erzählt Gerhard: „Du beginnst mit Buchstaben schreiben und immer ein Stückerl mehr. Mit Computern habe ich überhaupt keine Ahnung und keine Erfahrung gehabt. Ich habe ihn nicht einmal einschalten können und jetzt kann ich ein E-Mail schreiben.“ Dazu seien Mühe, Fleiß und Hilfe nötig gewesen. Stolz schildert der 47-Jährige außerdem, dass er jetzt selbstständig Formulare lesen und ausfüllen könne, Fahrpläne und Speisekarten verstehe und ihm diese Errungenschaft viel Selbstvertrauen bringe.

Trotz Pflichtschule kein sinnerfassendes Lesen

Österreichweit sind fast eine Million funktionale Analphabetinnen und Analphabeten. Sie können nicht sinnerfassend lesen und schreiben. Das ergab die bisher einzige umfassende Studie, die vor mittlerweile zehn Jahren von der OECD durchgeführt worden war. In der Steiermark sind rund 100.000 Menschen betroffen. Anlässlich des Weltalphabetisierungstages am 8. September sagen Fachleute, dass diese Zahlen wohl noch stimmen dürften.

Die Spanne unter den betroffenen Personen sei groß, sagt Michaela Haller, Geschäftsführerin des Lesezentrums Steiermark: „Das geht von Menschen, die wirklich nie alphabetisiert wurden – also nie lesen und schreiben gelernt haben, bis zu Menschen, die eine ganz normale österreichische Schulkarriere hinter sich gebracht haben. Sie haben eigentlich lesen und schreiben gelernt, sind aber dennoch funktionale Analphabeten.“

Großteil der Betroffenen sind Österreicher

In diesem Fall könne das Gelesene nicht richtig verstanden werden. Auch sinnvolles Schreiben ist hier nicht möglich, so Haller: „Das heißt konkret, diese Menschen können unterschreiben, vielleicht auch ganz, ganz einfache Notizen lesen. Aber um in unserer Gesellschaft zu funktionieren, braucht es ja auch die Fähigkeit, Nachrichten zu verfolgen, Gebrauchsanweisungen zu lesen, Verträge zu verstehen oder auch Hinweistexte in Städten zu lesen und das können diese Personen dann nicht.“

Der Großteil der betroffenen Menschen sei laut Haller in Österreich geboren und habe Deutsch als Muttersprache. Analphabetismus sei also kein Migrationsthema. Für Erwachsene mit deutscher Erstsprache gebe es das Angebot der Basisbildungskurse, das gut funktioniere, aber öfter angenommen werden sollte, so Haller.