„Whodentify“ – musikprotokoll 2022
Av3ry by Alexander Schubert © CG Imagery by Pedro Gonzalez Fernandez / ORF Grafik Bearbeitung
Av3ry by Alexander Schubert © CG Imagery by Pedro Gonzalez Fernandez / ORF Grafik Bearbeitung
Kultur

„Musikprotokoll“ widmet sich der „Whodentity“

Von 6. bis 9. Oktober findet in Graz das 55. „musikprotokoll“ statt, das ORF-Festival für Erkundungen des Neuen und noch Ungehörten im Rahmen des steirischen herbstes. Das Motto heuer lautet „Whodentity“.

„Whodentity“ ist ein Kunstwort, mit dem aktuell drängende Fragen nach Identitäten beleuchtet werden sollen wollen: Wer ist „wir“, welche Identität schreibt wer wem gesellschaftlich zu, und wer ist „man(n)“ in einem bestimmten Kontext?

Auftakt mit Yalda Zamani am Dirigentenpult

So gastiert am Freitag das ORF RSO Wien in der Grazer Helmut-List-Halle: Am Pult des RSO Wien steht heuer mit Yalda Zamani eine Künstlerin, die auch jenseits des Dirigierens als Schöpferin experimenteller Performances hervorsticht. Die Werke für Orchester und Solistinnen, die sie in diesem Konzert uraufführt, stammen von der britisch-iranischen Künstlerin Shiva Feshareki, die als Turntable-Solistin auch selbst auf der Bühne steht, und von der kroatisch-österreichischen Komponistin und Veranstalterin Margareta Ferek-Petric, deren Klavierkonzert von der österreichisch-rumänischen Pianistin Maria Radutu gespielt wird.

In der anderen Hälfte dieses Konzerts knüpft das musikprotokoll an eigene Traditionen an: Von Olga Neuwirth kommt als Auftragswerk ein Doppelkonzert für Violoncello und Schlagwerk zur Erstaufführung, dessen Cellopart Tanja Tetzlaff übernimmt. Und weil im Wort „Whodentity“ die Identität hinterfragt wird, steht noch ein Werk mit dem Titel identifications auf dem Programm: Es wurde 1970 komponiert und 1996 überarbeitet von jener Komponistin, die den berüchtigten Frauenanteil von 0,6 Prozent in dieser Zunft während der 1970er nahezu allein ausmachte: die 1928 in Zagreb geborene und 2012 in Wien verstorbene Luna Alcalay. Mit ihren identifications kommentiert sie posthum das Motto „Whodentity“.

Der Rolls Royce des Ensemblespiels

Apropos Festivaltraditionen: Es war in den späten 1980er-Jahren, als das Ensemble Modern zum ersten Mal zum musikprotokoll kam. Einer der jungen österreichischen Komponisten, die damals ein Auftragswerk komponierten, Karlheinz Essl, merkte an, wie großartig es sei, für den Rolls Royce des Ensemblespiels schreiben zu können. 2022 ist es endlich mal wieder soweit, und diesmal gibt es ausschließlich Musik von Komponistinnen zu hören.

Die Programmpräsentation des musikprotokolls zum Nachsehen

Es stehen Ur- und Erstaufführungen von der kroatisch-österreichischen Komponistin Mirela Ivičević und der serbisch-deutschen Komponistin Milica Djordjević auf dem Programm, ebenso wie von der Slowenin Petra Strahovnik, von Justė Janulytė aus Litauen und von Tania León, die 1943 in Havanna geboren wurde und während der letzten Jahrzehnte in den USA gelebt hat.

100 Jahre Internationale Gesellschaft für Neue Musik

Dem Schaffen von Komponistinnen widmet sich beim diesjährigen musikprotokoll auch das renommierte, von Cordula Bürgi gegründete und geleitete Vokalensemble Cantando Admont, das mit diesem Auftritt sein Festivaldebüt gibt. Es ist dies ein Festkonzert für die vor 100 Jahren in Salzburg gegründete Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) – unter anderem mit einer Uraufführung der steirischen Komponistin Elisabeth Harnik, die ein Gedicht der ukrainischen Autorin Iryna Shuvalova vertont hat.

Radio-Tipp:

Ö1 begleitet das musikprotokoll – das detaillierte Programm ist hier abrufbar.

Aktuelle Musik aus der Ukraine

Auch die aktuellen weltpolitischen Geschehnisse zeichnen sich in einem Festival des Zeitgenössischen immer ab: Die Bratschistin Kateryna Suprun, die bereits 2019 mit dem sensationellen, ukrainischen Danapris String Quartet in Graz gastierte, musste zu Beginn des Ukraine-Krieges nach Berlin fliehen. Im März erschien ihr Soloalbum Constellation, das sie unter pandemischen Bedingungen noch in Kyjiv eingespielt hatte. Es ist eine fein schillernde, zart anmutende Zusammenstellung aktueller Musik aus der Ukraine, die es nun erstmals in Österreich in einem Konzert zu entdecken gilt.

Installationen, Perfomances, Talks

Beim musikprotokoll gibt es neben klassischen Konzertformaten auch eine breite Palette von Veranstaltungen zu erleben: Installationen in Graz und auch als Onlineprojekte, Performances, Lectures, wissenschaftlichen Diskurs, Talks. Beispielsweise komponierte und forschte die Künstlerin Pia Palme drei Jahre lang am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz zu Komposition, Musiktheater und Feminismus aus der Position der Künstlerin – dabei entstand unter anderem die vielbeachtete Anthologie Sounding Fragilities, die sie im Rahmen des musikprotokoll präsentiert.

Aber interessante Aspekte verbergen sich auch jenseits der Binarität von weiblich/männlich in widersprüchlichen, subtilen, bunten, radikaleren Konfigurationen. Nicht einfach eine männliche Vormachtstellung, sondern die Zugehörigkeitsmarker von „human beings“ als solche und „künstliche Intelligenz“ stehen beispielsweise zur Disposition. Alexander Schuberts Unity Switch und auch sein Projekt mit dem KI-Programm Av3ry als nicht-binärer Person bereichern die Suche nach einer „Whodentity“.

Zur Gänze auf Ö1 zu hören

Das musikprotokoll, das auch heuer wieder viele junge Künstlerinnen und Künstler in Zusammenarbeit mit dem europäischen Festivalnetzwerk SHAPE+ präsentieren wird, wird zur Gänze in vielen Ö1-Sendungen nachzuhören sein, und ab 25. Oktober stehen außerdem viele Konzerte auf der Festivalwebsite als Dynamic Streaming mit Video und 3D-Audio zur Verfügung.