Chronik

Lager Liebenau: Tagung beleuchtet Prozess

In Graz beschäftigt sich im Oktober eine Tagung mit dem ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlager Liebenau. Im Fokus steht der sogenannte „Liebenauer Prozess“: Dabei mussten sich Mitglieder des Lagerpersonals in Graz vor Gericht verantworten.

Im Mai 1947 ließ die britische Besatzungsmacht am Gelände des ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers Liebenau Exhumierungsarbeiten durchführen. Gefunden wurden damals die sterblichen Überreste von 53 Menschen – 35 wiesen Schusswunden auf, weitere dürften unter der Erde geblieben sein.

Nachkommen der Verurteilten kommen zu Wort

Am 8. September 1947 begann im großen Schwurgerichtssaal des Grazer Straflandesgerichtes der Prozess gegen vier Mitglieder des Lagerpersonals: den Lagerleiter, den einstigen Lagerführer und dessen Vorgänger sowie den Lagerpolizisten. Sie waren der Misshandlung bzw. Tötung von ungarischen Juden und ausländischen Zwangsarbeitern im Liebenauer Lager angeklagt. Von „geradezu unmenschlichen Quälereien und menschenunwürdiger Behandlung“ sprach der britische Staatsanwalt in seiner einstündigen Anklagerede.

NS-Lager Liebenau
APA/Rainer Possert
Auf diesem Gelände lag das NS-Zwangsarbeiterlager Liebenau als Zwischenstation für bis zu 6.000 ungarische Juden.

Anlässlich des 75. Jahrestages des Liebenauer Prozesses wird am 10. Oktober in der Tagung im Grazer Meerscheinschlössl an die Vorkommnisse erinnert und die Todesmärsche ungarischer Juden im Spiegel von Nachkriegsjustiz und Erinnerungskultur neu beleuchtet. Das Forschungsinteresse richtet sich auch auf die nachfolgende Generation der Täter: „Erstmals werden Nachkommen der zum Tode verurteilten Täter über die Rolle ihrer Großväter, über die innerfamiliäre Auseinandersetzung und das Schweigen in den Familien und darüber hinaus sprechen“, kündigte Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin an der Uni Graz, an.

Opfer gerieten in Vergessenheit

Am Ende des Prozesses standen zwei Todesurteile, eine Haftstrafe und ein Freispruch. Gegen mutmaßliche Mörder aus den Reihen der Gestapo oder der Wachmannschaft wurde weder ermittelt, noch wurden sie zur Rechenschaft gezogen. „Obwohl der Prozess medial riesengroßes Interesse hervorgerufen hat, sind das Lager, die einstigen Geschehnisse und vor allem auch die Opfer für Jahrzehnte in Vergessenheit geraten“, konstatierte Stelzl-Marx.

Das NS-Zwangsarbeiterlager Liebenau war im April 1945 eine Zwischenstation von 5.000 bis 6.000 ungarischen Jüdinnen und Juden auf ihren Todesmärschen vom „Südostwall“ in Richtung KZ Mauthausen, mindestens 35 wurden erschossen und in Massengräbern verscharrt. Weitere starben an verweigerter medizinischer Versorgung und mangelnder Verpflegung, wie die britischen Untersuchungen ergaben. Die Überlebenden wurden über Leoben, Trofaiach, Eisenerz und Steyr weiter ins KZ Mauthausen getrieben. Am Präbichl in Richtung Eisenerz wurden nochmals an die 200 Menschen erschossen, auch auf dem Weitermarsch nach Mauthausen kam es zu weiteren Erschießungen.

Liebenau war „Ort des Schreckens“

Laut Barbara Stelzl-Marx zählen die Erschießungen und unmenschlichen Behandlungen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges zu den dunkelsten der Grazer Zeitgeschichte. „Das Lager Liebenau war für die durchziehenden Kolonnen ungarischer Juden im April 1945 zweifellos ein Ort des Schreckens“, erklärte Stelzl-Marx. Hier habe sich die der NS-Ideologie innewohnende Verachtung für als minderwertig eingestuftes Leben deutlich gezeigt, wie auch der Vernichtungsgedanke des Regimes.

Sie lädt gemeinsam mit den Instituten für Zeitgeschichte der Uni Graz und Uni Wien zur Tagung „Holocaust vor der Haustür – 75 Jahre Liebenauer Prozess“ ein. Im September 2020 wurde am Areal eine Tafel zum Gedenken an die in Liebenau verübten NS-Gräueltaten aufgestellt – mehr dazu Gedenktafel für Lager Liebenau enthüllt (11.9.2020).

Frühere Knochenfunde bei Grabungen

Zuletzt wurden im Jänner 2021 bei einer Sondierungsgrabung für ein Bauprojekt in der Nähe des Kindergartens menschliche Knochenteile gefunden – mehr dazu in Knochenfund bei Grabungen in Graz-Liebenau(19.1.2021). Darunter ein menschlicher Schädelknochen, der ein Einschussloch von rund sieben Millimeter Durchmesser aufwies – mehr dazu in Lager Liebenau: Einschussloch bei Knochenfund(8.7.2021). Die Stadt Graz und ihre Kooperationspartner in Bund und Land Steiermark lassen diesen Knochenfund nun weiter untersuchen. An sieben Stellen soll der Vierbeiner bereits Geruchsspuren erschnuppert haben – mehr dazu in Lager Liebenau: Spürhund erschnüffelt mögliche Gräber (12.2.2022).