Chemiefabrik in der Ukraine
APA/GROUPDF
APA/GROUPDF
Chronik

Stelzl-Marx: Ukraine-Krieg „eine Zeitenwende“

Seit einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. Im Interview spricht die Grazer Historikerin Barbara Stelzl-Marx von einer „Zeitenwende“, und sie glaubt, dass die Kämpfe nicht so heftig ausgefallen wären, wenn die EU bereits 2014 – bei der Annexion der Krim – eingeschritten wäre.

ORF Steiermark-Redakteurin Birgit Zeisberger: Wie vorhersehbar war denn der Krieg für Sie als Historikerin?

Barbara Stelzl-Marx: „Aus heutiger Sicht rückblickend sage ich, dass es viele Zeichen gegeben hat, die auf den Krieg hingedeutet haben. Gleichzeitig war der Ausbruch des Krieges aber genau vor einem Jahr eine ganz große Überraschung und auch ein Schock für mich und für
viele weitere Menschen.“

Welche Zeichen hat es gegeben, wenn Sie jetzt zurückblicken?

„Wesentliche Zeichen waren, dass von Anfang an Putin, als er an die Macht gekommen ist, Kriege als ein Mittel zur Etablierung seiner Macht eingesetzt hat. Das hat begonnen mit Tschetschenien, Georgien, Syrien, 2014 dann auch in der Ukraine mit der Annexion der Krim und mit dem Donbass. Und natürlich ein ganz akutes Zeichen war, als die Streitkräfte begonnen haben, sich um die Ukraine herum zu formieren und zu stationieren.“

Was bedeutet denn der Krieg jetzt für Europa?

„Dieser Krieg geht in eine Zeitenwende ein, und der Krieg hat nicht nur die Ukraine und Russland verändert, sondern auch den Westen und im Endeffekt die ganze Welt. Gleichzeitig bedeutet der Krieg aber auch, dass es zu einem Zusammenrücken des Westens kommt, von Europa, von der Europäischen Union, auch mit den USA. Und er bedeutet auch, dass es in der Ukraine ein ganz starkes nationales Bewusstsein gibt, das durch den Krieg auf jeden Fall gefestigt wurde.“

Hat sich Putin Ihrer Meinung nach getäuscht? Es gibt sozusagen mehr Zusammenhalt statt Zurückhaltung?

„Ja, das glaube ich schon, dass man das so sagen kann. Im Endeffekt ist das Gegenteil von dem passiert, was Putin wollte oder wovon wir ausgehen, dass es die Ziele von Putin waren. Und Putin hat sich insofern auch getäuscht, weil er nicht mit so einer vehementen Reaktion des Westens gerechnet hat, auch auf Basis der Reaktion von 2014, als es zwar erste Sanktionen und Proteste gegeben hat. Deswegen glaube ich auch, wäre die Reaktion 2014 anders gewesen, hätte sich der Krieg vor einem Jahr auch
ganz anders entwickelt.“

Wie hätte er sich entwickelt?

„Ich glaube nicht, dass Putin mit dieser Vehemenz in die Ukraine eingefallen wäre.“

Barbara Stelzl-Marx
APA/HERBERT NEUBAUER
Barbara Stelzl-Marx

Wie lange wird dieser Krieg Ihrer Einschätzung nach dauern?

„Ich glaube, dass der Krieg uns wohl noch viele Monate begleiten wird, wenn nicht sogar länger. Die Dauer des Krieges hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, das hängt von den Kriegszielen ab, von russischer Seite, das hängt aber auch vom Durchhaltewillen
von der ukrainischen Seite ab und natürlich ganz stark von der Hilfe, auch von der militärischen Hilfe, durch Europa und durch die USA.“

Der Ausgang ist ungewiss, aber wie kann es denn gelingen – EU, Russland und die Ukraine liegen ja doch nah nebeneinander. Wie kann sozusagen das Weiterleben miteinander dann funktionieren? Wie schätzen Sie das ein?

„Ich glaube, dass die Verbindung zwischen der Ukraine und dem Westen sehr eng und immer enger werden wird; zwischen der Ukraine und Russland, fürchte ich, sind die Kontakte oder ist ein gutes Zusammenleben auf viele Jahre oder Jahrzehnte hinaus
wirklich sehr stark beeinträchtigt – aufgrund der Erfahrungen des Krieges, auch aufgrund des unendlichen menschlichen Leids, das jetzt gerade passiert. Es wird Generationen dauern, bis es hier wieder gute Formen des Zusammenlebens geben wird.“

Das Gespräch mit Barbara Stelzl-Marx führte ORF Steiermark-Redakteurin Birgit Zeisberger.

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Weiter große Hilfsbereitschaft

Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine vor einem Jahr ist die Hilfsbereitschaft weiter groß. Viele Steirerinnen und Steirer bemühen sich weiterhin, harte Schicksale etwas erträglicher zu machen – mehr dazu in Ein Jahr Ukraine-Krieg: Weiter große Hilfsbereitschaft.