Der Bedeutungsverlust des 1. Mai

Der 1. Mai ist in Österreich gleichzeitig Staatsfeiertag und Tag der Arbeit. Doch die ursprüngliche Bedeutung des Tages, der in erster Linie für die öffentliche Machtpräsentation der Arbeiterschaft gedacht war, trat in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund.

Die Geschichte des 1. Mai beginnt mit der blutigen Niederschlagung eines Fabriksarbeiterstreiks Ende des 19. Jahrhunderts in den USA, erzählt der Historiker Dieter-Anton Binder von der Grazer Karl-Farnzens-Universität: „Ausgegangen von einem Zwischenfall 1886, nach einer Rede eines Redakteurs der Chicagoer Arbeiterzeitung, ist es zu Ausschreitungen und Tumulten mit mehreren Toten gekommen.“

Tag der Arbeit - und der Machtdemonstration

Als Erinnerung an dieses dramatische Ereignis wurde der 1. Mai fortan auch in Europa zum Tag, an dem die sozialdemokratische Arbeiterschaft ihre Stärke öffentlich demonstrierte - seit 1893 auch in Österreich.

Was zunächst mit so genannten Spaziergängen begann, wurde im Zuge der erstarkenden Arbeiterbewegung immer mehr zur durchgestylten Inszenierung mit Fackelzügen schon am Vorabend und mächtigen Aufmärschen mit hunderten Fahnen und tausenden Teilnehmern. In den 20er-Jahren erreichten dann die Maiaufmärsche vor allem in Wien ihre Hochblüte, erzählt Binder: „Man könnte zynisch sagen: Was für die Katholiken die Fronleichnamsprozession ist, ist den Sozialdemokraten der 1. Mai.“

Kundgebung zum 1. Mai auf dem Wiener Rathausplatz

APA/Herbert Neubauer

Außer in Wien gibt es kaum noch große Maiaufmärsche

Propagandainstrument der Nationalsozialisten

Als 1933 in Österreich der autoritäre Ständestaat errichtet wurde, wurden die roten Mai-Aufmärsche verboten. Ab 1938 nützten dann die Nationalsozialisten den 1. Mai für ihre eigenen Propagandazwecke: „Der Nationalsozialismus hat den 1. Mai zum Tag der deutschen Arbeit umfunktioniert - so, wie wir ihn kennen, war er erst wieder ab 1946 möglich“, erzählt Binder.

Zunehmende Entideologisierung

In den ersten Nachkriegsjahren wurden die Maiaufmärsche in ganz Österreich noch stark frequentiert, doch schon bald rüttelten Wirtschaftswunder und funktionierende Sozialpartnerschaft an den Grundfesten des Arbeiter-Festtages: „Seit Ende der 50er-Jahren ist eine zunehmende Entideologisierung erkennbar, außer in Wien gibt es kaum noch starke Veranstaltungen. Die Aufmärsche wurde immer mehr zu Minderheitenveranstaltungen.“

Mehr Tradition denn politische Motivation

Daran wird sich aus heutiger Sicht auch so schnell nichts ändern, sagt Dieter-Anton Binder, nicht zuletzt, weil die Maiaufmärsche schon in den vergangenen Jahrzehnten mehr aus Tradition denn aus politischer Motivation abgehalten wurden: „Das hängt auch damit zusammen, dass viele der Aufgerufenen die historischen Wurzeln gar nicht mehr kennen und dass man als jahrzehntelange Regierungspartei schon längst andere Möglichkeiten der Selbstdarstellung hat.“