Was wurde aus uns - und warum?

1889 hat Gerhart Hauptmann das Sozialdrama „Vor Sonnenaufgang“ verfasst. Das Grazer Schauspielhaus bringt nun eine für das 21. Jahrhundert adaptierte Neufassung von Ewald Palmetshofer auf die Bühne.

Die Sonne soll im metaphorischen Sinne wieder aufgehen: für eine Frau, deren Ehe nicht optimal verläuft, für einen Vater, der seine Sorgen im Alkohol ertränkt, für eine Designerin, die hoch verschuldet ist.

„Grundunzufrieden“, obwohl es uns prächtig geht

„Vor Sonnenaufgang“ ist ein Sozialdrama, das der Gesellschaft einen Spiegel vorhält, so Regisseur Bernd Mottl: „Das verbindet alle Figuren im Stück - sie fragen sich, warum ist eigentlich mein Leben nicht so toll, wie ich mir das vorgestellt hab’, dass es werden müsste, und das ist, glaube ich, so eine melancholische Grundstimmung in unserer Wohlstandsgesellschaft - uns geht es eigentlich ziemlich prächtig, und trotzdem macht sich eine ‚Grundunzufriedenheit‘ breit.“

"Vor Sonnenaufgang"

Schauspielhaus Graz/Lupi Spuma

Diese „Grundunzufriedenheit“ war bereits bei Gerhart Hauptmann Thema, als er 1889 das Drama fertigstellte - im Grazer Schauspielhaus ist allerdings eine zeitgemäße Adaption zu sehen: Basierend auf dem Original von Hauptmann konnte der österreichische Autor Ewald Palmetshofer die Szenerie in die Gegenwart der postmodernen Gesellschaft transferieren.

Eine Stimmung

„Bei Hauptmann ist es ja ein Sozialdrama, das heißt, da wird sehr großer Wert darauf gelegt, die Milieus zu zeigen, die sich gegenseitig unterscheiden, die Unausweichbarkeit aus diesem Milieu ist da das große Thema. Palmetshofer hat die Figuren übernommen und ungefähr die Anlage, schildert aber gar nicht so ein wahnsinniges Auf und Ab von Handlungsverläufen, sondern er schildert eigentlich mehr eine Stimmung“, so Mottl.

"Vor Sonnenaufgang"

Schauspielhaus Graz/Lupi Spuma

Was bei Gerhart Hauptmann in einem bäuerlichen Milieu spielt, wird von Ewald Palmetshofer in ein bürgerliches Umfeld eingebettet: Im Zentrum steht Thomas Hoffmann, der die Firma seines Schwiegervaters übernommen hat und sich für eine rechtspopulistische Partei im Gemeinderat engagiert; seine Frau Martha erwartet das erste Kind, obwohl die Ehe nur wenig harmonisch verläuft.

„Wieso driften die Menschen auseinander?“

Dynamik erhält das Stück, als Thomas Hoffmanns Jugendfreund Alfred Loth zu Besuch kommt - er arbeitet als Journalist für ein Medium, das im politisch linken Spektrum zu verorten ist. „Dieser ehemalige Kumpel stellt ihn noch einmal vor die Frage, woher sie eigentlich kommen, und warum sie jetzt so unterschiedlich geworden sind, und wieso die Menschen - und da wird das Stück dann eben größer - im Moment vor allem auseinanderdriften“, sagt Mottl.

"Vor Sonnenaufgang"

Schauspielhaus Graz/Lupi Spuma

Die Gegenüberstellung von linkem Journalisten und rechtspopulistischem Firmenchef ist sinnbildlich für die Spaltung unserer Gesellschaft, meint Darsteller Mathias Lodd: „Wenn man sich etwa die USA anschaut, wie stark gespalten die Gesellschaft dort ist, oder sogar in Österreich, die Spaltung, die ist da - nicht nur politisch, sondern auch zwischenmenschlich.“

Kein Polittheater

„Vor Sonnenaufgang“ im Grazer Schauspielhaus soll dennoch nicht als Polittheater verstanden werden, so Regisseur Bernd Mottl: „Es geht überhaupt nicht um politische Phrasen, um Parteiprogramme, sondern es wird eigentlich ganz menschlich geschildert. Es geht mehr so um einen philosophischen Zusammenhang.“

Sendungshinweis:

„Der Tag in der Steiermark“, 10.5.2019

Neben der politischen Dimension werden aber auch weitere Probleme unserer Gesellschaft angesprochen, sagt Lodd: „Die Entwicklung durch die Smartphones zum Beispiel - wenn ich etwa durch die Straßen gehe, glotzt jeder auf den Bildschirm vor sich - in die Augen guckt keiner mehr. Und diese Spaltung in der Gesellschaft, die in dem Stück erzählt und behandelt wird, die finde ich wirklich evident in unserer Gesellschaft.“

Am Ende geht doch die Sonne auf

Das ursprüngliche Sozialdrama wird in der Fassung von Ewald Palmetshofer mehr und mehr zur tragikomischen Farce, und dennoch bleibt am Ende mit dem Bild des Sonnenaufgangs ein Funken Hoffnung übrig: „Optimismus, Neustart, jeder Tag beginnt mit dem Sonnenaufgang“, so Lodd.

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