Radkersburg: Pflegekinder ausgebeutet?

Im Endbericht der Wiener Heim-Historikerkommission wird auch die bisher kaum bekannte Situation von Pflegekindern in der Landwirtschaft beleuchtet. In den 1960er und 70er Jahren sollen Pflegekinder im Bezirk Radkersburg auf Bauernhöfen ausgebeutet worden sein.

Die Kinderheime waren „Orte des Schreckens“ - so beschreibt der Endbericht der Wiener Heim-Historikerkommission die Situation in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren – mehr dazu in Schockbericht zu Gewalt in Heimen (wien.ORF.at). Aber auch die bisher noch kaum bekannte Situation von Pflegekindern in der Landwirtschaft wird in dem 533 Seiten starken Historikerbericht beleuchtet.

Von Pflegekolonien ist die Rede

Von Großpflegefamilien mit bis zu zehn Pflegekindern ist im Historikerbericht die Rede. Vor allem in die ländlichen Bezirke Radkersburg und Jennersdorf im Burgenland brachte die Fürsorge in den 1960er und 1970er Jahren unterversorgte Kinder aus Wien. Von Pflegekolonien ist im Bericht die Rede: „Es sind vor allem bäuerliche Familien, die gern Pflegekinder nehmen, manchmal bis zu zehn. Wir vermuten, dass das Pflegegeld und die Arbeitsleistung der älteren Pflegekinder maßgebliche Motive der an Geld und Arbeitskräfte mangelleidenden Bauernfamilien waren.“ (Zitat aus dem Historikerbericht)

Verlauste und verwanzte Kinder

In den von der Kommission geführten Interviews mit ehemaligen Pflegekindern und Verantwortlichen ist mehrfach von massiven Missständen in den Familien die Rede: „Etwa, dass Kinder von der Fürsorgerin völlig verlaust, verwanzt und bettnässend vorgefunden wurden und zu anderen Pflegeeltern oder in ein Heim gebracht werden mussten“, heißt es im Bericht.

Kinder wurden ausgetauscht

Für die Stadt Wien waren und sind Pflegeplätze billiger als Heimplätze. Dazu kam laut Historikerbericht der Mangel an Heimplätzen in Wien durch die steigende Zahl an Kindern, die von den Eltern abgegeben oder von der Fürsorge den Eltern abgenommen wurden. Der Bericht einer damals verantwortlichen Fürsorgerin über die Situation bei der Ankunft kleiner Kinder in Radkersburg und Jennersdorf: „Diese Frauen haben einander gut gekannt und die Kinder ausgetauscht. Die Amtsgehilfin musste die Kinder ja anbringen. Ich wollte ja immer ein Mäderl, sagt die eine und die andere sagt, ja ich nehme auch einen Buben und schon waren sie vertauscht.“ (Zitat aus dem Historikerbericht)

Spott aufgrund des steirischen Akzents

Es soll zwar intakte persönliche Beziehungen zwischen Kindern und Pflegeeltern gegeben haben, der Kontakt zu den leiblichen Eltern war aber durch die große Entfernung von Wien meist nicht möglich. Doch wenn die Pflegekinder ins Lehrlingsalter kamen und keinen Lehrplatz fanden, mussten die meisten mit ihrem steirischen Akzent zurück in ein Lehrlingsheim, in der für sie unbekannten Großstadt Wien. Dort wurden sie laut Bericht aufgrund jahrelanger Vernachlässigung Opfer der Aggression und des Spots Wiener Jugendlichen.

Die Heimhistoriker-Kommission schlägt nun eine eigene, weitergehende Untersuchung über die mögliche Ausbeutung von Pflegekindern in der Landwirtschaft vor.