Viele Pflegende überfordert: System unter Kritik

Nach dem Schuldspruch für einen Oststeirer, der mit der Pflege seiner Frau überfordert war, steht nun auch das Pflegesystem unter Kritik: Viele pflegende Angehörige würden sich laut Experten in Österreich im Stich gelassen fühlen.

Mit einem Schuldspruch wegen versuchten Totschlags ging unlängst der Prozess gegen einen Oststeirer am Grazer Straflandesgericht zu Ende. Der Mann war mit der Pflege seiner demenzkranken Frau überfordert und wollte sie und sich selbst bei einem absichtlich herbeigeführten Autounfall töten. Den Unfall überlebten beide - die Frau starb zwei Monate später an den Folgen. Das Urteil für den 70-Jährigen: vier Jahre Haft, 15 Monate davon unbedingt - mehr dazu in Versuchter Totschlag: Oststeirer verurteilt (16.3.2017).

„Extremversagen des Pflegesystems“

Der steirische Gerichtspsychiater Manfred Walzl, der auch aus dem Grazer Amokfahrerprozess bekannt ist, war auch in diesem Fall als Gutachter herangezogen worden - dabei überraschte er mit deutlicher Kritik. So sprach Walzl von einem „Extremversagen des Pflegesystems“: Den pflegenden Angehörigen werde immer mehr aufgebürdet, sie würden vom System alleine gelassen werden.

Manfred Walzl

APA/Erwin Scheriau

Gutachter Manfred Walzl

„Es ist - was die Pflege zu Hause betrifft - ein massiver Notstand. Wir werden hier neue Strukturen schaffen müssen. Solange diese nicht auch institutionalisiert vonseiten der Öffentlichkeit bestehen, muss man von einem völligen Versagen sprechen“, betonte der Experte.

Pflege als Extrembelastung

Vor allem die Pflege von Demenzkranken ist eine Extrembelastung: Versorgung rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr - dazu keine Positiverlebnisse, keine Aussicht auf Erfolg - das ist psychisch für die Angehörigen nur sehr schwer zu verkraften.

„Es muss jedem, der einen Demenzkranken pflegt, klar sein, dass er nicht das große Wunder erwarten darf wie zum Beispiel bei einem Beinbruch - der ist nach vier bis sechs Wochen verheilt. Das gibt es bei der Demenz leider nicht“, so Walzl.

Entlastung für Pflegende

Eine mögliche Lösung seien laut dem Gutachter nun staatlich organisierte Programme zur Entlastung von Angehörigen: „Im angloamerikanischen Sprachraum gibt es längst das ‚Care-for-the-Caregivers‘-System, wo man sich wirklich um die Pflegenden kümmert und diese pflegt: Die brauchen Urlaub, die brauchen Entspannung, die brauchen Unterstützung. Das alles gibt es bei uns nicht in einer wirklich strukturierten Form.“

Organisationen wie die Caritas oder die Volkshilfe bieten zwar Entlastungsangebote für pflegende Angehörige - das wird auf Dauer aber zu wenig sein, angesichts von 280.000 Demenzkranken, die laut Walzl bis 2050 in Österreich zu erwarten sind.