Weihnachtsansprache von Superintendent Hermann Miklas

Ich möchte Ihnen zum Hl. Abend heute eine alte Geschichte erzählen. Sie stammt ursprünglich von Leo Tolstoi. Möglicher Weise kennen Sie sie. Aber gute Geschichten kann man ja durchaus auch öfter hören.

Es war einmal ein alter Schuster. Sein Name war Martin. Er hat in einem Keller gelebt. Dieser war für ihn Werkstatt und Wohnung zugleich. Durch das kleine Kellerfenster hat Martin zwar alle Menschen beobachten können, die auf der Straße vorbeigegangen sind, aber in Wirklichkeit hat er gerade einmal ihre Füße gesehen. Er hat sie trotzdem erkannt. An ihren Schuhen, die er alle schon einmal in seinen Händen gehabt hatte. Die Leute sind gern zu Martin gekommen, denn er hat seine Arbeit gut gemacht und nicht zu viele Geld dafür verlangt.

Wenn es Advent wurde, dann hat Martin in der Dämmerung gern ein Licht angezündet und in seinem Lieblingsbuch gelesen; in der Bibel mit ihren vielen Geschichten von Jesus. Den ganzen Tag hat er sich auf dieses Buch gefreut, oft hat er den Abend kaum erwarten können.

Eines Tages hört Martin, wie jemand seinen Namen ruft: Martin, klingt es leise an sein Ohr. Doch als er sich umschaut, ist niemand da. Gleich darauf hört er die Stimme noch einmal: Martin, schau morgen vor dem Heiligen Abend hinaus auf die Straße! Ich will zu dir kommen… Hat er gerade geträumt? War es wirklich Jesus, der da aus der Stille zu ihm gesprochen hat?

Hermann Miklas

Evangelische Kirche

Superintendent Hermann Miklas

Am nächsten Morgen sieht Martin vor seinem Fenster ein paar alte, geflickte Soldatenstiefel hin- und hergehen. Er kennt natürlich auch den Mann, der sie anhat. Es ist der alte Stephan, der gerade Schnee schaufelt. Immer wieder muss er stehen bleiben und sich ausrasten, so sehr strengt ihn die schwere Arbeit an. Martin hat Mitleid mit dem alten Mann und ruft ihn zu sich herunter in den Keller: Komm doch herein, Stephan, und wärme dich in meiner Stube! Dankbar nimmt Stephan die Einladung an. Mit dem ganzen Schnee an seinen Stiefeln traut er sich kaum, die Stube zu betreten. Doch Martin redet ihm freundlich zu: Stephan, setz dich nur zu mir an den Tisch! Eine Tasse heißer Tee wird dir gut tun...

Als Stephan gegangen ist, schaut Martin während seiner Arbeit immer wieder gespannt aus dem Fenster. Denn vielleicht, vielleicht würde heute ja wirklich noch Jesus zu ihm kommen! Stattdessen sieht er nach einiger Zeit eine junge Mutter mit einem kleinen Kind auf den Armen vorbeigehen. Die Frau muss ja furchtbar frieren in ihrem dünnen Kleid, denkt sich Martin – und als er genauer hinschaut, sieht es, wie sie die ganze Zeit versucht, ihr Kind vor dem kalten Wind zu schützen. Komm herein, gute Frau, ruft Martin ihr zu, hier herinnen kannst du dein Kind besser wickeln! Und als sie mit dem Kind die paar Stufen herunter in seine Werkstatt kommt, nimmt Martin die Suppe vom Herd, die er für sich gekocht hat, und gibt sie der Frau. Während sie isst – sie war sichtlich schon hungrig – nimmt Martin das Kind auf seinen Schoß und bringt es zum Lachen. Als sich beide gewärmt hatten, gibt Martin der Frau das Kind zurück.

Doch kaum war die Mutter mit dem Kind fort, hört Martin einen Riesen-Lärm vor seinem Haus. Er geht zur Tür und sieht eine Marktfrau, die gerade auf einen kleinen Buben eindrischt. Der scheint ihr einen Apfel aus ihrem Korb gestohlen zu haben. Warte nur, du elender Dieb, schreit sie wütend, ich wird´ dich zur Polizei bringen! Sie zerrt ihn an den Haaren. Jetzt brüllt auch der Bub. Kurz entschlossen greift Martin ein: Lass ihn doch laufen! Er wird´s bestimmt nicht wieder tun. Und den Apfel, den bezahl´ ich dir schon!. – Da beruhigt sich die Marktfrau allmählich. Nach einer Entschuldigung lässt sie den Buben tatsächlich los. Und als sie weitergeht, hilft er ihr sogar, den schweren Korb zu tragen...

Am Abend zündet Martin ein bisschen traurig ein paar Kerzen an und richtet alles für sein bescheidenes Weihnachtsfest her. Schade, dass Jesus ihn doch nicht besucht hatte. Doch plötzlich hört er wieder die Stimme an seinem Ohr: Martin, ich bin heute bei dir gewesen. Hast du mich wohl erkannt?, fragt sie ihn. Wann denn? Wo denn? fragt Martin erstaunt zurück. Schau dich nur einmal um, sagt die Stimme. Und als Martin sich umdreht, meint er, im Licht der Kerzen den alten Stephan zu sehen, daneben die Mutter mit ihrem Kind. Und sogar den kleinen Lausbuben entdeckt er im Halbdunkel seiner Werkstatt samt der Marktfrau mit ihrem Korb. Erkennst du mich jetzt?, flüstert die Stimme. – Doch dann waren auf einmal alle verschwunden.

Da ist es Martin ganz warm ums Herz geworden. Und als er wieder seine geliebte Bibel zur Hand nimmt, da bleibt sein Blick bei den Worten Jesu hängen: Alles, was ihr einer meiner geringsten Brüder (und Schwestern) getan habt, das habt ihr mir getan!

So weit die Geschichte von Lo Tolstoi. Warum ich sie uns heute wieder in Erinnerung gerufen habe? – Weil sie zeigt, dass Erwartungen manchmal sehr anders in Erfüllung gehen als wir uns das ausgemalt hatten. Doch gar nicht so selten kann sich die eine oder andere (scheinbare) Enttäuschung auch in Tiefe verwandeln.

In diesem Sinn wünsche Ihnen Gottes reichen Segen zum Heiligen Abend!