Karfreitagsansprache von Superintendent H. Miklas

Es gibt Momente, die sind so aufwühlend, dass man das Gefühl hat: Jetzt müsste die ganze Welt eigentlich den Atem anhalten!
Doch sie tut es nur in den seltensten Fällen. Ja damals, am 11. September 2001, da hat sie es tatsächlich getan. In der Regel aber geht das Leben weiter seinen gewohnten Gang. Selbst die schockierendsten Meldungen unterbrechen kaum noch die normale Tagesordnung der breiten Öffentlichkeit.

Hermann Miklas

ORF

Sendungshinweis:

„Der Tag in der Steiermark“; 18.4.2014

„Eigentlich Welt den Atem anhalten“

Wer jemals einen sterbenden Menschen in seinen letzten, schweren Stunden begleitet hat und danach wieder auf die Straße tritt, reibt sich ebenfalls betroffen die Augen: Das gibt´s doch gar nicht, dort drinnen ist gerade ein ganzes Leben in sich zusammengebrochen – und hier draußen wird gehetzt, gehupt, gelacht und getratscht, so als ob überhaupt nichts geschehen wäre.

Ähnlich geht es mir auch mit dem heutigen Karfreitag. Eigentlich, so denke ich, müsste jetzt die Welt den Atem anhalten. Doch die Wirklichkeit ist eine andere. Längst haben sich Frühlingsgefühle unter uns breit gemacht, das Osterwochenende wirft seine Strahlen voraus und auf vielen Straßen herrscht heute sogar besonders lebhafter Verkehr.

Salvador Dalis Figur

Symbolisch gesprochen: Das Kreuz Jesu Christi steht heute nicht mehr irgendwo groß und erhaben auf einem weithin sichtbaren Hügel, das Sterben Jesu vollzieht sich vielmehr mitten im Leben – auf einer Kreuzung, einem Gehsteig oder einer Straßenecke - von vielen kaum bemerkt, für manche ein Ärgernis, nur für wenige ein Grund, um inne zu halten.

Salvador Dali hat vor rund 50 Jahren für die Stadt Sevilla eine Figur des sterbenden Christus geschaffen. Sie befindet sich mitten auf einem der belebtesten Plätze der Stadt und steht den Vorübergehenden regelrecht „im Weg“. Zahllose Fotografen und Filmemacher haben seither immer wieder festgehalten, wie Menschen damit umgehen. Einige bleiben erschrocken stehen und schauen genau hin; manche von ihnen gehen dann nachdenklich weiter, andere betroffen, wieder andere verärgert...

Viele aber wissen längst, wie man der Figur am geschicktesten ausweichen kann und kümmern sich nicht überhaupt nicht mehr um sie. Immer aber ist dieser sterbende Christus geradezu „umspült“ vom Strom der Menschen, er steht sozusagen „mitten im Leben“ der Stadt.

Drei Gedanken

Ist das blasphemisch?

Drei verschiedene Gedanken jagen mir dazu durch den Kopf.

Zum einen: Eine solche Figur irritiert!Und das ist gut so. Denn die Hinrichtung Jesu war ein Skandal. Der Abgesandte Gottes auf Erden, der wie kein zweiter die Liebe gepredigt hat (Gottes Sohn!) wird zum Tod verurteilt – und er lässt es geschehen. Manchmal denke ich: Die, die in unserer Gesellschaft vehement das Abhängen von Kreuzen in Schulklassen fordern – auch wenn ich ihre Meinung absolut nicht teile – aber die spüren wenigstens noch etwas vom Skandal, der dem Kreuz Jesu Christi anhaftet. Und das mag vielen Menschen in Sevilla vielleicht genau so gehen.

Für Andere ist der Anblick normal geworden, sie schauen gar nicht mehr hin,sondern wissen der Figur geschickt auszuweichen. Ein gewisser Gewöhnungseffekt ist bei so etwas fast unvermeidlich, denn man kann über ein und dieselbe Sache natürlich nicht tag-täglich neu betroffen sein. Trotzdem: Die Gleichgültigkeit schmerzt am meisten. Die Gleichgültigkeit auch unserer Gesellschaft. Denn sie betrifft ja nicht das Kreuz Jesu allein, sondern sie geht oft Hand in Hand mit einer schwindenden Sensibilität für menschliches Leid insgesamt. Es ist nur zu hoffen, dass es wenigstens ab und zu stumpf gewordene Menschen doch wieder aus ihrer Lethargie aufzurütteln.

Mein dritter und wichtigster Zugang jedoch ist: Das paradoxe Bild vom sterbenden Christus mitten im Leben fasziniert mich. Ist es nicht genau das, was er wollte? Sein Leben und sein Sterben war doch eine einzigartige Solidaritätsbezeugung Gottes mit uns Menschen! Für uns gestorben, heißt es in der Bibel. Und zwar: Für uns alle, nicht nur für die Frommen allein. Wo also könnte das Gedenken an den unbegreiflichen Tod Jesu Christi einen besseren Platz haben als mitten in unserem Leben?

„Immense Liebe Gottes“

Ich wünsche mir trotzdem, dass viele Menschen heute für einige Momente den Atem anhalten. Nicht so sehr aus Pietät, um damit halt eine religiöse Pflicht zu erfüllen, sondern um die immense Liebe Gottes wieder ganz neu auf sich wirken zu lassen. Denn was ja auf keinem Foto zu sehen ist: Wir schleppen oft so viel mit uns herum, an Mist, an Sorgen, an Kummer, an Schuld und Versagen. Und dann steht da einer mitten auf unserem Weg und lädt uns ein, unsere Lasten bei ihm abzuladen: Sie sind mit ihm gekreuzigt. Das lässt einem schon den Atem stocken – aber dann auch ganz tief durchatmen.