Ein Leben in der Manege
50 Menschen aus verschiedensten Nationen haben derzeit bei der Grazer Helmut-List-Halle ihre Zelte aufgeschlagen. Das größte ragt zwölf Meter in die Höhe und wird von unzähligen Wohnwagen und Stallungen gesäumt. 35 Meter Durchmesser misst das sogenannte Chapiteau, das Zirkuszelt, in dem sich die Zuschauerreihen um die Manege wickeln - nah dran an dem, was die Zwei- und Vierbeiner in oft jahrzehntelanger Arbeit geschaffen haben.
Mit Elefanten aufgewachsen
Wenige Minuten vor der Show lädt Zirkusdirektor Louis Knie jun. in seinen Wohnwagen: „Wir sind schon in der achten Generation der Familie Knie. Ich bin sehr froh und stolz, dass ich bei den Knies lernen durfte. In den ersten zehn Jahren, in denen wir hier in Österreich gastierten, hatte ich die Möglichkeit, mit Elefanten und Raubtieren zu arbeiten.“ Seit 40 Jahren lebt Knie im Zirkus, trat bereits als Sechsjähriger gemeinsam mit dem Elefanten Sahib auf.
www.louisknie.com
Mit 1. Jänner 2005 wurde die Haltung und das Mitwirken von Wildtieren wie Elefanten, Löwen oder Tiger im Zirkus durch das Tierschutzgesetz verboten - „sicher gibt es auch viele schwarze Schafe“, bestätigt der Direktor und betont: „Wir haben alles gemacht für die Tiere, hatten in jeder Stadt einen Amtstierarzt, der die Gehege, die Ausläufe, den Stall, die Transportwagen kontrolliert hat.“
ORF
Die Kunst, mit der Zeit zu gehen
Immerhin 60 Tiere führt der Zirkus heute noch mit sich - unter anderem Kamele, Kühe, Ziegen und natürlich Pferde. Mit ihnen hatte die nahezu heutige Form des Zirkus vor einem Vierteljahrtausend begonnen: 1768 erwarb Philip Astley ein Gelände an der Westminster Bridge, in dem er Pferdedressur vorführte.
Zu den Reitern kamen später auch Akrobaten und ein Clown hinzu. Nach dem Vorbild des römischen Circus Maximus (lat. für „große, runde Arena“, taufte er sein Konzept „Circus“ - und so nennt sich das Konzept auch heute noch.
August Pugin and Thomas Rowlandson - Houghton Library
Seitdem hat sich allerdings viel verändert: „Die Leute sind sehr verwöhnt geworden“, sagt Knie, „die Clowns von damals mit den großen Schuhen kannst du nicht mehr zeigen. Es ist alles viel moderner geworden. Man muss einfach mit der Zeit mitgehen: mit dem Licht, der Musik.“
ORF
Was Knie, der die Show heute gemeinsam mit Pferden, Kamelen oder Kühen fortführt, antreibt? „Dass man wie ein Kind in der Schule, wie ein Gymnast oder Hockey- oder Fußballspieler von Tag zu Tag besser wird, und endlich das, was man monatelang trainiert hat, zeigen kann. Wenn die Leute dann brüllen und applaudieren, das ist das Schönste.“
ORF
Eine Familientradition
Ähnlich sieht das Emilia, die mit ihrem Mann, ihrer Schwägerin und ihrem Schwager im Zirkus eine Jockey-Reitnummer präsentiert - der Applaus sei das Schönste am Zirkusleben. Darin hineinkatapultiert habe sie jedoch die Liebe. 13 Jahre ist das mittlerweile her, fünf erlernte Sprachen, unzählige Tricks und scheinbar noch mehr Städte.
Sechs Stunden braucht es, um das Zirkuszelt aufzubauen – in vier ist es wieder abgebaut, und die Reise kann weitergehen. Warum man bleibt, um doch nirgendwo zu bleiben, hat viele Gründe - besonders dann, wenn man im Zirkus aufgewachsen ist. Die 16-jährige Tschechin Sara Berousek vertritt bereits die achte Generation ihrer Familie im Zirkus - und unterstützt Knie im Rahmen der Pferdedressur.
ORF
„Mein ganzes Leben habe ich im Zirkus verbracht. Ich liebe es, durch die ganze Welt zu reisen. Jedes Jahr findest du neue Freunde, neue Weggefährten, das ist einfach so im Zirkus“, in dem auch Saras Familie lebt - darunter ihr zweijähriger Bruder, den ihr Vater, Jongleur und Akrobat Robi Berousek, gerade im Kinderwagen rund um das Zirkuszelt schiebt.
ORF
„Also ich denke, für die Kinder ist es die schönste Sache, die es gibt, im Zirkus zu leben: Sie stehen auf, gehen spielen, sehen die Tiere: Die Kinder können sich austoben, und es wird nie langweilig“, sagt Berousek.
Impressionen vom Louis Knie in Graz
Gepostet von Circus Louis Knie jun. am Freitag, 14. September 2018
Nach der Saison bei Louis Knie geht es für die Familie weiter mit einem deutschen Weihnachtszirkus, anschließend wurde Robi vom Festival Monte Carlo eingeladen, dort seine Leiter-Show zu zeigen - „das ist dann mein Jubiläum nächstes Jahr: 30 Jahre, in denen ich Akrobatik auf der freistehenden Leiter mache“.
Leben im Moment
Was danach kommt, das steht noch in den Sternen über dem Zirkuszelt. Doch das ist auch etwas, was zum Zirkusleben dazugehört, betont die in Budapest geborene Artistin Tünde: „Ich war 16 Jahre alt, als ich mich dazu entschloss, auf die Artistenschule zu gehen und all das zu lernen, was ich heute kann. Denn gleich danach bin ich zum Zirkus gegangen. Hier lebt man den Moment, alles ist spontan - und das liebe ich.“
ORF
Doch auch zum Leben in Freiheit gehören Verpflichtungen - etwa selbst dann zu lachen, wenn man lieber weinen möchte. Im Juli hat sich Peter Wetzel alias Clown Spidi das Leben genommen. In Graz tritt David Carnevale als Clown Mr. Lorenzo auf. Wie es hinter der Maske aussieht?
ORF
„Natürlich bin auch ich manchmal traurig, auch ich habe mal Probleme. Dann denke ich mir aber: Die Menschen kommen her, um zu lachen, ihre Probleme einmal zu vergessen. Und dann sehe ich meinen Job als Freude - denn ich darf Groß und Klein zum Lachen bringen“, schildert der Sizilianer, der bereits drei verschiedene Päpste zum Lachen brachte.
Zwischen Alltagsroutine und Aufregung
Drei verschiedene Auftritte sind es indes, für die die Tschechin Maria Kellner als Handstand-Artistin und Reiterin beim Zirkus Louis Knie engagiert ist. Bei zwei Vorstellungen täglich ist ihr Tagesablauf durchgeplant: „Ich stehe auf, räume meinen Wohnwagen auf, mache etwas zu essen, dann gehe ich trainieren, danach schminke ich mich.“
ORF
Je nach Wochentag beginnt die erste Vorstellung zwischen 15.00 und 16.00 Uhr, die Abendshow um 19.00 Uhr. Rund um die Vorstellungen und in den Pausen verkauft Maria Popcorn beim Buffet, das vor dem Chapiteau aufgebaut worden ist.
Solange es noch Kinder gibt
Kurz vor der Show trifft man dort auch zahlreiche Kinder - die einen aufgeregt, die anderen vorerst unbeeindruckt, das ein oder andere Smartphone in der Hand haltend. Die zehnjährige Annika gehört zur ersten Gruppe: „Zirkus, das heißt für mich: Hey, schaut mal her, staunt - und wir zeigen jetzt was wir können“ - und das will sie gleich live aus der ersten Reihe miterleben. Ein Gefühl, das auch Zirkusnarr Josef Fritz kennt: Mit vier Jahren hatte er das erste Mal den Duft des Sägemehls geschnuppert - 62 Jahre später zieht es ihn immer noch in Zirkuszelt um Zirkuszelt.
ORF
„Das Treiben in der Manege, in der Luft, am Boden, die Clowns, die Tiere, die Artisten, die Akrobaten, der Geruch des Sägemehls, das Popcorn - da läuft mir die Gänsehaut über den Rücken. Und wenn man das Strahlen in den Augen der Kinder sieht, das Staunen der Erwachsenen, so wie ich das heute wieder miterleben darf, dann muss ich feststellen, dass der Zirkus nach wie vor eine irrsinnige Faszination ausübt - und bei allen Vorstellungen sein Netz über das Publikum breitet wie eine Spinne. Elfi Althoff-Jakobi hat einmal gesagt: Solange es Kinder gibt, wird es den Zirkus geben.“ Also: Manege frei!