„Das war eine Schweinerei“

Friedrich Knilli, Holocaust- und Medienexperte in Berlin, hat als Kind die „Arisierung“ in Graz miterlebt. Einer der Profiteure: sein Onkel. Doch auch der kam unter dem Nazi-Regime ins Gefängnis - eine Familiengeschichte zum Gedenken an die Pogrome 1938.

In der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 fanden im gesamten Deutschen Reich von den Nazis gelenkte Gewaltaktionen gegen Juden statt - auch in Graz wurde die Synagoge in Brand gesetzt, zahlreiche Juden wurden aus ihren Häusern geprügelt und in Konzentrationslager deportiert, ihre Wohnungen wurden geplündert und verwüstet. In zahlreichen Veranstaltungen wird in diesen Tagen dieser Greueltaten der Nazis gedacht.

Steirer ist Holocaust- und Medienexperte in Berlin

So hat etwa der gebürtige Fehringer Friedrich Knilli in der Landesbibliothek einen Vortrag über die „Arisierungen“ in Graz gehalten - ein Thema, das mit seiner Familiengeschichte eng verbunden ist: Sein Onkel Josef Knilli hat 1938 durch Arisierung ein Geschäft in der Annenstraße erstanden. Für die Familie Spielmann, die im Besitz dieses Geschäfts war und von den Nazis enteignet wurde, sind mittlerweile sogenannte Stolpersteine im Gedenken angebracht worden - mehr dazu auch in „Stolpersteine“ des Gedenkens in Graz.

Friedrich Knilli

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Friedrich Knilli ist heute 83 Jahre alt, er lebt in Berlin und ist Medienwissenschaftler und ausgewiesener Experte in Sachen Holocaust und Medien. Er beschäftigt sich seit Jahren mit „Jud Süß“ - sein neues Buch stellt den Hauptdarsteller des Films, den Schauspieler Ferdinand Marian, in den Mittelpunkt.

ORF-Steiermark-Reporter Helmut Schöffmann hat mit Friedrich Knilli vor dem Haus in der Annenstraße 34 gesprochen.

Schild Annenstraße 34

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In der Annenstraße 34 befand sich das 1938 arisierte Geschäft der Familie Spielmann.

ORF: Welche Gedanken und Gefühle kommen Ihnen eigentlich, wenn sie jetzt vor dieser Annenstraße 34 vorbeigehen?

Friedrich Knilli: „Ich bin eigentlich sehr gerührt, weil ich hier aus- und eingegangen bin und in dem Geschäft hier daneben und in dem Kino meine ersten vier Jahre von 1940 bis 1944 verbracht habe. Ich bin immer ins Kino schwarz rein und im Geschäft konnte ich spielen. Es ist Kindheit und Jugend ein bisschen beieinander, was mich hier verbindet.“

Haben Sie von der Atmosphäre der „Arisierung“ etwas mitbekommen, können Sie sich erinnern?

„Ich kann mich sehr gut erinnern, denn es ging um das Geld. Meine Großmutter mussten ihrem Sohn, dem Josef Knilli, Geld leihen. Wir lebten damals in Fehring einer Venier-Familie, nicht in einer Knilli-Familie - ich bin eigentlich ein Venier. Und sie hat von der Sparkasse etwa 3.000 Reichsmark abgehoben und weil das so viel Geld war, hat sie sie in ihr Bett gelegt und die ganze Nacht behütet. Und dann wurde das hierher geschleppt irgendwie, mit dem Auto. An die Details danach kann ich mich sehr genau erinnern. Mein Onkel wurde, weil er schwarz Kleider verkaufte, eingesperrt. Ich habe ihn im Krankenhaus besucht. Er hat sich einen offenen Wadenbruch schlagen lassen, damit er nicht nach irgendeinem Lager abgestellt wurde oder zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.“

Sendungshinsweis:

„Der Tag in der Steiermark“, 8.11.2013

„Ich wurde, als ich nach Graz kam, eigentlich verspottet als Zuchthäusler. Ich hatte keine Freunde, nichts, weil ich so völlig aus dem Leben gerissen von Fehring hierher gesetzt wurde, mit einem neuen Namen. Ich hieß bis zu meinem zehnten Lebensjahr Venier und dann plötzlich Knilli. So ein Identitätswechsel, nicht.“

Wenn Sie über diese „Arisierung" heute nachdenken: War das Wahnsinn?“

„Eine Schweinerei. Eine Schweinerei, und das war ein schmutziges Geschäft, gar keine Frage. Weil: Wenn Leute, die schon von den Nazis quasi enteignet und vertrieben werden, den Nazis noch dabei helfen, irgendwelche Nachfolger zu erfinden - das ist für meine Begriffe ganz und gar unmoralisch.“

Und es waren ja Verwandte von Ihnen, die hier offenbar mitgemacht haben.

„Er hat nicht vom Spielmann das Geschäft gekauft, sondern von einer Vermögensverwaltungsstelle. Ich mag meinen Onkel heute noch so, als ob nichts passiert wäre, aber das war einfach nicht in Ordnung. Ich habe von den Folgen so gut wie nichts mitbekommen, weil in Fehring - da gab es keinen Judenhass, sondern da waren wir ‚Spaghetti‘. Wir waren Italiener und wurden wie Juden behandelt.“

Weil Sie Venier geheißen haben...

„Weil ich Venier hieß. Und die ganze Venier-Familie wurde geoutet. Ganz klar.“

Rassismus überall sozusagen.

„Mein Onkel hieß auch Venier und musste sich dann den Namen von seinem Vater geben lassen, weil sie nicht verheiratet waren. Und dann wurde er anerkannt in Fehring.“

Geschichte:

1938 wird das Geschäft der Familie Spielmann in der Annenstraße 34 arisiert. Der neue Besitzer wird Josef Knilli. Sein Neffe Friedrich kommt 1940 nach Graz und wird bald als „Verbrecher“ beschimpft, denn in der Zwischenzeit ist sein Onkel wegen Schwarzhandel mit Kleidern angeklagt worden. Laut Friedrich Knilli wird er deshalb 1942 zu Zuchthaus verurteilt.

Und hat dann selbst aber als Ariseur gewirkt.

„Er war, wenn Sie so wollen, von den Akten her nicht direkt mit Spielmann im Geschäft, sondern mit dieser Vermögensverwaltungsgesellschaft. Aber er war in dem Geschäft hier ungefähr von 38 bis 41, dann war er im Knast. Weil er schwarz verkauft hat. Das heißt: Er war ganz kurze Zeit in dieser Rolle und hat hier den Parteibonzen, dem Bürgermeister eben auch, Kleider ohne Punkte verkauft. Er ist irgendwo eine tragische Figur für mich - aber er war nie unterzukriegen.“

Aber sagen Sie, er hat auch mitgemacht und davon profitiert?

„So zugespitzt hat er natürlich, wenn er Geschäft macht, profitiert. Er hat mitgemacht, keine Frage. Weil er ja auch bei der SA war, in Fehring. Aber die SA in Fehring war seine Kundschaft. Er mit dem Motorrad konnte das ganze Raabtal abfahren und es waren SA-Leute, Lehrer, Beamte, die dann Kunden von ihm wurden. Während sein Vater das überhaupt nicht geschafft hat. Ich sage nur, das Geschäft war ein schmutziges Geschäft. Das Wort Schuld ist hier zu heftig.“

Wobei die Grazer Verwandten mit Ihnen offenbar, ich sage einmal, keine rechte Freude haben - da ist doch eine Art Zerwürfnis gewesen.

„Wenn man so blöd ist, oder so frech, und 2008 sagt: ‚70 Jahre Familienbetrieb‘ und den Spielmann dabei kassiert - das ist eine Frechheit. Oder Dummheit. Ich werde hier wie ein Nestbeschmutzer behandelt. Als ob ich etwas tue, was man eigentlich nicht mehr darf oder noch nie durfte. In Berlin ist es keine Schwierigkeit, über Vergangenheit offen zu reden. Ohne sich ständig zu beschimpfen. Das sind alles Leute aus der dritten Generation - was sollen sie dazu sagen? Sie können es nur zur Kenntnis nehmen und schauen, dass es nicht noch einmal passiert. Aber wenn man so wegdrückt, dann finde ich es sehr, sehr bedenklich. Man kann die Vergangenheit einfach nicht loswerden, indem man sagt: ‚Wir reden nicht darüber.‘ Sondern Sie ist Teil unserer Gegenwart und unsere Zukunft ist auch davon abhängig.“

Ist das auch der wesentliche Punkt, um den es Ihnen geht, wenn Sie mit Jugendlichen über diese Vorfälle von damals sprechen?

„Ja. Dass sie kapieren, was gelaufen ist, und nicht auf den Schwachsinn einsteigen, den sie von jemanden hören - sondern selber einsteigen, da und dort selber Geschichtsforschung betreiben. Irgendjemandem Verhaltensweisen einzubläuen, das bringt überhaupt nichts.“

Stolpersteine Spielmann Annenstraße Graz

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Die Stolpersteine weisen an verschiedenen Punkten in der Stadt darauf hin, wo jüdische Einwohner vertrieben oder deportiert wurden - mehr dazu auch in „Stolpersteine“ des Gedenkens in Graz

Gibt es nicht auch Jugendliche, oder heute auch schon Erwachsene, die sagen: ‚Jetzt muss endlich einmal Schluss sein‘?

„Sehr viele, sehr viele. Die meisten, die ich hier jetzt getroffen habe, sagen das. Aber das heißt nur, dass sie immer noch dran denken und nur Schiss haben, darüber zu reden. Weil sie irgendeinen Opa oder einen Grufti in der Familie haben, der einmal die Hand hochgehalten hat und ein Hakenkreuz. Warum sollen sie das nicht akzeptieren dürfen und laut aussprechen dürfen? Ohne zu sagen: ‚Es war richtig.‘ Es war keine schöne Zeit.“

Haben Sie an die Spielmanns, die jüdischen Vorgänger der Firma, eine Erinnerung?

„In dem Geschäft... es war ebenerdig der Laden, dann gleich etwas erhöht ein weiterer Raum. Und neben dem Raum war so ein Abstellraum mit Klo, wo wir öfter auch schliefen. Und da fand ich von dem Spielmann Spiegel und alte Rechnungen. Ich bilde mir ein, ich hätte ihn auch gesehen; aber ich habe jetzt aus Bildern, die ich nachträglich bekam, festgestellt: Nein, ich denke ich habe ihn verlässlich nicht gesehen.“

Was hat man Ihnen damals gesagt, wo die jüdischen Besitzer hingegangen sind?

„Überhaupt nichts. Das war überhaupt kein Thema in der Familie. Dass das hier ein jüdisches Geschäft war, war mir überhaupt völlig unklar, weil wir sofort in diesen Prozess involviert waren. Wenn Sie sich vorstellen: Der Onkel lässt sich in der Untersuchungshaft von einem Kollegen einen offenen Wadenbruch schlagen. Ich besuche ihn im LKH, wo er war. Und dann die Frage: Wird er abgeschoben in ein Lager, oder nicht? Also, die Thematik war in der Familie ganz anders.“

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