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Geschichte(n) eines jüdischen Lebens

In der Reichspogromnacht sind im November 1938 zahllose jüdische Einrichtungen zerstört, Juden ermordet, verletzt und erniedrigt worden. Diese Pogrome hat auch Isidor miterlebt – seine Urgroßnichte hat seine Geschichte niedergeschrieben.

Die Journalistin Shelly Kupferberg lebt in Berlin. Geboren wurde sie aber in Tel Aviv – und dort, in der Wohnung ihres Großvaters, fand sie auch Briefe, die er im Jahr 1956 – 18 Jahre nach der Vertreibung durch die Nazis – von seiner Reise nach Wien an seine Frau geschrieben hatte.

Dieser Großvater, Walter Grab, verbrachte die letzten Monate vor seiner Flucht im Sommer 1938 bei seinem Onkel Isidor, und der Geschichte dieses Onkels spürt Shelly Kupferberg in ihrem Buch nach: „Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel. Aber dieser Name war zu verräterisch.“

Als Millionär verhaftet

Aufgewachsen ist Isidor Geller in großer Armut in einem galizischen Dorf – und er ist wie seine Geschwister nach Wien gegangen und hat sich dort hochgearbeitet. Im Laufe der Jahre ist er zu großem Reichtum gekommen, lebte in einer prachtvollen Wohnung an der Ringstraße mit einer großen wertvollen Bibliothek und zahlreichen Kunstgegenständen. Als er von den Nazis 1938 verhaftet wurde, war er mehrfacher Millionär.

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Diogenes Verlag/ORF

Shelly Kupferberg erzählt in „Isidor“ vom schillernden Gesellschaftsleben und seinen nicht immer ganz sauberen Geschäften. Und natürlich von der großen Katrastrophe nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Isidor Geller wird verhaftet und unter Folter gezwungen, seinen gesamten Besitz den Nazis zu überschreiben.

Ein Mord in Raten

Als gebrochener, schwer kranker Mann wird er aus der Haft entlassen und von seiner Schwester Franziska gepflegt. Ihr Sohn Walter – der Großvater der Autorin – kann rechtzeitig nach Palästina ausreisen. Die Briefe aus Wien klingen verzweifelt und voller Angst: „Die letzten Ereignisse, liebes Kind, waren so grauenhaft, dass ich nicht in der Lage bin, vorläufig davon zu sprechen. Jeden Tag kommen andere Gesetze. Jom Kippur wurde im 18., 19. und 21. Bezirk den Juden verkündet, dass sie binnen 24 Stunden die Wohnung verlassen müssen. Kannst dir die Panik vorstellen? Die Trauer an Jom Kippur im Tempel war ungeheuer. Dr. Schwarz wollte Trostworte spenden, aber konnte nicht vor lauter Schluchzen.“

Sendungshinweis:

„Guten Morgen, Steiermark“, 6.11.2022

Am 17. November 1938 stirbt Isidor Geller im Alter von 52 Jahren an den Folgen der schweren Misshandlungen in der Haft. Die Haft war ein Mord in Raten, sagt sein behandelnder Arzt.

Nur das Besteck ist geblieben

Was ist mit dem Vermögen passiert, mit seinem Besitz, den Wertpapieren, den Aktien? Shelly Kupferberg versucht die Antworten darauf in Wiener Archiven. Denn im Familienbesitz erhalten ist nur ein großer Silberbesteckkasten. Das reich verzierte, schwere Besteck hat es auf abenteuerliche Weise nach Tel Aviv geschafft.