Paul Lendvai
ORF/Thomas Ramstorfer
ORF/Thomas Ramstorfer
Chronik

Lendvai entlarvt die „Meister der Heuchelei“

Er gilt als Doyen des österreichischen, und auch des europäischen Journalismus: Paul Lendvai. Selbst mit 94 Jahren ist er noch als Moderator und Kolumnist aktiv, Anfang des Jahres hat er sein 20. Buch veröffentlicht. Unter dem Titel „Über die Heuchelei“ nimmt er darin die Politik im In- und Ausland unter die Lupe.

Es sind unzählige Beispiele von Täuschung und Heuchelei in der internationalen, aber auch österreichischen Politik, auf die Paul Lendvai in seinem neuesten Buch Bezug nimmt. Neu sei das Thema aber nicht, so Lendvai: „Schon Luther hat über Heuchelei gesprochen, aber es ist ein großer Unterschied, ob in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Politik. Und hier hat noch etwas seine Rolle – die Kommunikationsrevolution; dadurch wird die Heuchelei verhundertfacht, vertausendfacht.“

Paul Lendvai wurde in Budapest geboren und floh 1957 nach Österreich. Hier ist er bis heute als Moderator des ORF-Europastudios sowie als Kolumnist aktiv. Am Montag präsentiert er sein neuestes Buch auch in Graz.

Kurz ein „Virtuose der Heuchelei“

Und versucht Lendvai, vor allem die „modernen Meister der Heuchelei“ zu enttarnen: „Ich schreibe in meinem Buch über unser Nachbarland, mein ursprüngliches Heimatland, über Ungarn, wo ein Meister der Heuchelei, Viktor Orban, herrscht. Es ist ein Unterschied zwischen der Heuchelei in einer Demokratie, in einer funktionierenden liberalen Demokratie und in einer Diktatur. Also Heuchelei kann in Österreich klarer dargestellt werden, als zum Beispiel in einer Halbdiktatur, wie in den sogenannten Systemen von Orban oder auch Vucic in Serbien.“

Diese Systeme seien mit Österreich nicht vergleichbar, hier hänge vieles mit der aktuellen Tagespolitik und mit den Persönlichkeiten zusammen. Dem ehemaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz widmet Lendvai daher ein ganzes Kapitel und bezeichnet ihn als „Virtuosen der politischen Heuchelei“: „Weil ich habe erlebt zum Beispiel den Fall von Jörg Haider, der jedenfalls intellektuell in einer ganz anderen Klasse war wie Sebastian Kurz, aber nicht in dieser Perfektion. Vielleicht war die Zeit auch länger, die er in der Politik verbracht hat, und durch seine Alkoholsucht und andere Probleme war das schwieriger für ihn. Aber in solcher Perfektion habe ich in Österreich, in den letzten 50, 60 Jahren, das nicht erlebt. “

„Darf Wähler nicht unterschätzen“

Gerade in einem Superwahljahr wie es das Jahr 2024 ist, ist die Gefahr, Täuschungen durch die Politik zu unterliegen, besonders groß, doch Lendvai warnt: „Ich glaube, man darf nicht die Wähler unterschätzen. Es ist sehr, sehr wichtig, glaube ich, für jede Partei und für jede Persönlichkeit, Fehler zuzugeben, und sich nicht als etwa ein perfektes Produkt hinzustellen.“

Interview mit Paul Lendvai

Paul Lendvai steht ORF-Redakteur Franz Neger Rede und Antwort zum Thema Heuchelei in der heimischen und internationalen Politik

Umgekehrt sei es aber wichtig, dass jeder Österreicher seine Aufgaben als Staatsbürger auch ernst- und wahrnimmt: „Dazu gehört, dass man die Zeitungen liest, Radionachrichten hört, Fernsehnachrichten anschaut, dass man sich erkundigt, dass man sich für das Gemeinwohl, für die Gesellschaft interessiert. Und das bedeutet nicht nur einen abstrakten Begriff, sondern es bedeutet auch die Freunde, die Verwandte – und da spürt man, ob etwas gut läuft oder nicht. Es war doch kein Zufall, dass Bruno Kreisky fünfmal Wahlen gewonnen hat, weil dort war eine Einheit der Politik und der Linie.“

Politik als Opfer von Täuschung und Bestechung

Selbst Politiker sind nicht gefeit davor, Täuschungen zu erliegen oder getäuscht zu werden. So haben offenbar gerade europäische Politiker über viele Jahre hinweg den russischen Präsidenten Wladimir Putin völlig falsch eingeschätzt – etwa in Deutschland: „Da hat sicherlich die Vergangenheit, die gerechtfertigten Schuldgefühle wegen der Erbschaft Hitlerdeutschlands, der Überfall auf die Sowjetunion, und in Wirklichkeit auch Massensterben in Deutschland nach sich gezogen hat. Aber in diesem Sinne war Deutschland ein Sonderfall und auch das Erbe der sogenannten Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr.“

Darüber hinaus hänge es von den jeweiligen Politikern ab, inwieweit sie sich von der Macht verführen lassen: „Es gibt leider Beispiele, dass Politiker bestochen werden, sei es während ihrer Amtszeit oder nachher oder sowohl, als auch. Da können wir erwähnen Gerhard Schröder, da können wir erwähnen auch einen früheren französischen Ministerpräsidenten, und wir können auch erwähnen, Fälle, wie sie jetzt bekannt werden in Österreich.“

Im Kampf gegen Heuchelei „viel zu tun“

Paul Lendvai, der in wenigen Monaten seinen 95. Geburtstag feiert, will daher auch weiterhin nicht zur Ruhe kommen: „Weil man sieht, wie viel zu tun ist, im Sinne des Kampfes gegen Ignoranz, Heuchelei gegen das Böse. Und wenn man etwas zu sagen hat und man das noch so formulieren kann, dass es nicht langweilig, abgedroschen, Wiederholung ist und die Menschen das interessiert, dann spüre ich einen Auftrieb. Und so will ich bis zum letzten Atemzug deshalb dafür kämpfen und schreiben, dass vor allem in diesem kleinen Land Österreich das Bessere, das Gute irgendwie zum Zuge kommt.“